Die aktuell sehr dominante Berichterstattung über das sogenannte Corona Virus beinhaltet auch eine Begleitgeschichte, die im Zusammenhang mit dem Aufkommen und der verhältnismäßig hohen Ausbreitung des Virus in Südkorea steht. Von Seiten der südkoreanischen Regierung wurde nämlich in den Raum gestellt, dass es einen spezifischen und ganz konkreten Grund gäbe, warum das Virus gerade in diesem Land so stark Verbreitung finden würde: Es wäre durch Mitglieder der christlichen Glaubensgemeinschaft Shincheonji (korrekter wäre übrigens die Umschrift Shinchonji beziehungsweise Sinch’ŏnji, "Neuer Himmel und Erde"; eigentlich die Kurzbezeichnung für diese Gemeinschaft) massiv verbreitet worden. Letzten Informationen zufolge soll es sogar eine Anzeige gegen den Gründer der Gemeinschaft gegeben haben, die das Delikt des "Mordes" in den Raum stellt.

In den Medien und von diversen Anti-"Sekten"-Interessensverbänden und Lobbyinggruppen wurde diese These bereitwillig aufgenommen, in den meisten Fällen wohl ungeprüft und nur auf westlichen Medienberichten fußend. Zum Teil werden diese Angaben dann mit einem weiteren Spin versehen, nämlich dass gerade diese Gemeinschaft besonders stark betroffen wäre, weil sich dieser Umstand auch zu diversen Inhalten der Lehre fügt. Die Gemeinschaft sei also ursächlich mit der Verbreitung des Virus in Südkorea verbunden.

Wie haltbar ist diese These?

Die Frage ist allerdings: wie haltbar ist diese These? Durchaus nachvollziehbar ist, dass die Ausbreitung eines Virus innerhalb einer spezifischen und sehr engen Religionsgemeinschaft rasch erfolgt, weil man sich regelmäßig zu Gottesdiensten beziehungsweise religiösen Handlungen zusammenfindet. Das würde aber auch auf jede andere Religionsgemeinschaft zutreffen und der Zusammenhang mit dem Corona-Virus wäre in diesem speziellen Fall wohl mehr dem Zufall geschuldet. Jedoch steht im Raum, dass die Gemeinschaft selber von ihren Lehren her die Verbreitung befördert hätte. So wurde zuweilen behauptet, dass man Mitgliedern von Arztbesuchen abriet, weil man durch die Lehre beziehungsweise die Praxis in der Gemeinschaft gesund werden könnte.

Für letzteres gibt es allerdings keine wirklichen Hinweise. Die Themen Heilung und Heilungsversprechen haben bei Shincheonji – im Unterschied zu vielen anderen christlichen Kirchen in Südkorea – keine zentrale Bedeutung. Der Gründer von Shincheonji, Lee Man-hee (geb. 1931), nimmt für sich in Anspruch, diverse Vorhersagen der christlichen Bibel zu erfüllen und reiht sich damit in den Reigen vergleichbarer Entwicklungen im südkoreanischen Kontext. Dort hat sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das Christentum – im Unterschied zu anderen Ländern im ostasiatischen Kontext – sehr gut etablieren können, was möglicherweise mit einer grundverschiedenen Etablierungsgeschichte des Christentums auf der koreanischen Halbinsel zu tun hat. Unter den verschiedenen Variationen des Christentums finden sich dabei immer wieder auch diverse kreative Weiterinterpretationen, die natürlich Anstoß erregen, vor allem bei den etablierten Kirchen und insbesondere dann, wenn diese Gemeinschaften erfolgreich Mitglieder akquirieren.

Der Gründer von Shincheonji, Lee Man-hee
Foto: Kim Ju-sung

Stellvertreterdiskussionen

Dabei kann man zuweilen durchaus idente Muster der kritischen Wahrnehmung erkennen, die sich in die gängigen "Sekten"-Muster fügen: Manipulation und Ausbeutung der Mitglieder, "Gehirnwäsche", hierarchische Struktur, heimliche Unterwanderung des Staates und anderes mehr. Ob das im Einzelnen auf die jeweilige Gemeinschaft überhaupt zutrifft, ist sekundär: Mit dem "Sekten"-Begriff hat man eine bequeme Schublade, die vor differenzierter Beschäftigung bewahrt und die eigentliche Frage, ob eine Gemeinschaft "Sekte" ist oder nicht, umschifft. Bei näherer Beschäftigung mit dem Begriff ergibt sich nämlich recht rasch die Frage, auf welche Religionsgemeinschaft diese Muster nicht auch zutreffen würden, wenn man es in der Außenbetrachtung nur dementsprechend darauf anlegt. Diskussionen um sogenannte "Sekten" sind deshalb vielfach in erster Linie Stellvertreterdiskussionen um gänzlich andere Fragen oder eine bequeme Möglichkeit abzulenken. Im gegenständlichen Fall kann man sich dieses Verdachts nicht ganz entziehen.

Kontrovers wird über Shincheonji schon eine Zeitlang berichtet. Das hat viel mit den ausgeprägten und offensichtlich erfolgreichen Verbreitungsbemühungen in aber auch außerhalb Koreas zu tun, die mit durchaus problematischen Praktiken verbunden sind. Dabei verstimmt vor allem das prinzipielle Vorgehen, weil die Werbenden tendenziell ihre Mitgliedschaft bei Shincheonji verbergen, sich vielmehr als Mitglieder einer konventionellen christlichen Gemeinschaft ausgeben und damit gezielt beispielsweise Bibelkreise besuchen oder vor allem im universitären Kontext zu werben suchen. Das fügt sich zu Elementen der Lehre des Gründers, der sehr ausführlich diverse Aussagen der Bibel freihändig auf sich selbst bezieht, dies aber als quasi "versteckte" Wahrheit, der man erst stufenweise zugebracht werden muss. Den zitierten "undercover" Zugang begründet man übrigens mit Bezug auf biblische Stellen, etwa derjenigen, in der vorhergesagt wird, dass Jesus bei seiner Wiederkunft "wie ein Dieb in der Nacht" kommen würde.

Vergleichbare Praktiken kennt man auch von anderen neureligiösen Bewegungen. Und sie sind als das zu qualifizieren, was sie sind:  Versuche, "undercover" zu agieren. Diese bringen konsequent auch dementsprechende negative Wahrnehmung mit sich, über die sich eine Gemeinschaft nicht zu wundern braucht. Die Folge ist eine äußerst kritische Medienberichterstattung, zum einen in Korea selbst, aber in den letzten Jahren auch außerhalb. All das hat aber wenig bis nichts mit dem Corona-Virus zu tun.

Zusammenarbeit mit den Behörden fraglich

Allerdings kann es zu einem prinzipiellen problematischen Verhalten nach außen führen. Im Falle von Shincheonji kam es offensichtlich dazu, dass auf die erste Aufforderung der Behörden nach Bekanntwerden des Corona-Problems, eine Liste von Mitgliedern zur Verfügung zu stellen, nur eine unvollständige weitergegeben wurde - wohl aus einer generell misstrauischen Haltung heraus. Das verzögerte offensichtlich das weitere Auffinden von möglicherweise Betroffenen. Dies kann man in der Tat als problematisches Reagieren bezeichnen und konterkariert die Behauptung der Gemeinschaft, man hätte immer mit den Behörden zusammengearbeitet.

Allerdings ging die kritische Berichterstattung zum Teil sogar soweit, der Gemeinschaft aktive und absichtliche Verbreitung des Virus vorzuwerfen. Auch das fügt sich in bekannte Muster von der Bedrohung der Gesellschaft durch "Sekten". Deutlich lässt sich hier also das Phänomen beobachten, dass übliche Vorbehalte gegen "Sekten" relativ rasch und ungeprüft generalisiert übertragen werden. So geartete Gemeinschaften eignen sich zudem hervorragend als isolierter "Grund" beziehungsweise als einziger "Schuldiger" wahrgenommen zu werden. In der Geschichte hat es einige vergleichbare Fälle geben, insbesondere auch im Zusammenhang mit diversen Epidemien und Seuchen. Wäre man Zyniker, würde man sagen, dass die Affäre wie gerufen kommt – und sei es nur, um von eigenen Versäumnissen im aktuellen Krisenfall abzulenken. (Franz Winter, 9.3.2020)

Zum Thema