Wo er war, war genügend Platz für die Mittelschicht: Helmut Kohl, CDU-Kanzler der "Wende" und der deutschen Einheit, hier in einer Aufnahme von 1999.

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Was für Deutschland einmal richtig war, galt verallgemeinernd für die gesamte Wohlstandswelt. Früher war die Mitte der Gesellschaft dort angesiedelt, wo Helmut Kohl mitsamt seiner Partei, der CDU, Platz fand: bequem im Herzen der Bundesrepublik Deutschland. Ortsbestimmungen? Mit denen konnte sogar in stark wachstumsgebremsten Phasen einigermaßen großzügig verfahren werden.

Und heute? Hat nicht nur in der aktuell führungslosen CDU eine verzweifelte Suche nach dem Platz im Zentrum begonnen. Das Schlimme daran: Die gute, alte Mitte scheint sich, obwohl inständig beschworen, vollständig in Luft aufgelöst zu haben. Das Bürgertum bildete in Europas Nachkriegsgesellschaften einst eine bequeme, aus sicheren Löhnen und lieben Gewohnheiten gebildete Schnittmenge. Ihr sicheres ökonomisches Auskommen schien die Mittelschicht vornehmlich der eigenen Leistungskraft zu verdanken. Im Vertrauen auf die "unsichtbare Hand" des Marktes wurde das gewissenhaft vom Munde Abgesparte auf das Sparbuch gelegt. Damals, man glaubt es kaum, gab es auf alles reichlich Zinsen.

Ein Leben in der gesunden Mittellage war nicht aufwühlend, aber es belohnte Bienenfleiß mit Jahresurlauben und erschwinglichen neuen Autotypen. Die Balance aus Staat, Markt und Privatsphäre versprach vielleicht keine goldenen Armaturen im Badezimmer; aber sie lockte mit den soliden Freuden moderaten Komforts.

Postindustrielles Regime

Die Mitte? Entsprach bis herauf in die 2000-Jahre den symbolischen Siedlungsgebieten des nivellierten Mittelstandes. Der reagierte auf die Herausforderungen der Globalisierung skeptisch bis brummig. Aber der Glaube an das schichtspezifische Ideal von Berechenbarkeit schien unverbrüchlich. Bis plötzlich nichts mehr sicher war wie einst.

In Filmemacher Ken Loachs erschütternder, neuer Newcastle-upon-Tyne-Tragödie "Sorry We Missed You" bemüht sich ein Paketausfahrer wie ein Ertrinkender, den ihm geweissagten Platz in der Mitte der Gesellschaft einzunehmen. Sein wesentliches Produktionsmittel, den Lieferbus, stellt er selbst. Den Mehrwert streicht an seiner statt der Fuhrparkleiter ein: indem er den zweifachen Familienvater immer heftiger drängt, die Dienstleistung auf den Privatbereich auszudehnen. Die gesellschaftliche Transformation bedeutet für den Lieferanten Ricky Turner den schrittweisen Ruin. Das postindustrielle Regime nötigt die Angehörigen der soliden, alten Mittelschicht zum Abstieg in den tertiären Sektor.

Der Kinobesucher sieht fassungslos zu, wie Ricky sich im Geiste des Neoliberalismus selbst "optimiert". Zwischen zwei Auslieferterminen findet er nicht einmal mehr Zeit, ordnungsgemäß sein Wasser abzuschlagen. Er uriniert, im Schutz der Hecktür, zack zack, in eine mitgeführte Wasserflasche.

Figuren wie Ken Loachs sich aufopfernder Möchtegern-Bürgerlicher beschreiben die Selbstzerstörung einer Formation, die man, fest verankert in der Mitte der Gesellschaft, ehedem für unverrückbar hielt. Doch die, die es sich leisten können, haben sich inzwischen aus dem Staub gemacht.

Lob der kognitiven Arbeit

Die glücklichere Hälfte der Mittelschicht ist in die Gefilde des Lichts und des Genusses ausgewandert. Die Vertreter des Neobürgertums leisten heute vornehmlich "kognitive Arbeit". Sie nutzen wie selbstverständlich Güter, die sich unaufhörlich valorisieren lassen. Sie bestätigen sich und anderen gegenüber als "Singularitäten", indem sie kostbare Ressourcen nutzen. Der Gebrauch oder Genuss von Kunstwerken soll sie zu denjenigen machen, für die sie sich von vornherein halten.

Es könnte also sein, dass der Platz in der Mitte, sofern überhaupt vorhanden, sträflich verwaist bleibt: in Österreich, in Deutschland, im Rest der vom Wohlstand geplagten Welt.

Friedrich Merz, der neben Armin Laschet aussichtsreiche Anwärter auf den CDU-Parteivorsitz, zieht in ganz Deutschland durch die Ortsvereine seiner Partei und verspricht, dem "Rechtsstaat" wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Das Bekenntnis zur Abgrenzung gegenüber den Rechtsradikalen der AfD kommt ihm pflichtschuldig über die Lippen. Der Tummelplatz der alten Mitte wird zusehends zum Geisterort.

Die Besserverdiener haben sich in ihre yuppisierten Stadtviertel davongemacht, wo sie vegane Bagel speisen und häufig Grün wählen. Der untere Rand der alten Mittelklasse, sehr oft auf ländlich-kleinstädtische Räume konzentriert, erblickt nur noch die Schuhsohlen der Abgehobenen. "Kosmopoliten" und "Kommunitarier" nennt der Soziologe Andreas Reckwitz die beiden neu entstandenen Lager. Nur in der ominösen Mitte kampieren wollen beider Vertreter partout nicht. (Ronald Pohl, 5.3.2020)