Selbst erfahrenen Wall-Street-Händlern wie Peter Tuchman standen bei dem Ausverkauf der Vorwoche die Haare zu Berge.

"Crash-Propheten sind wie stehengebliebene Uhren", lautet eine alte Börsenweisheit, "zweimal am Tag liegen sie richtig." Soll heißen, notorische Kassandra-Rufer verpassen die guten Phasen zwischen diesen seltenen Ereignissen – und diese waren an der Wall Street in der vergangenen Dekade überaus ertragreich. Zuletzt schossen die Crash-Propheten jedoch geradezu wie Pilze aus dem Boden – und haben jetzt auch noch ein neues Virus an ihrer Seite. Ist ihre Stunde nun gekommen? Oder ist mit dem Kursrutsch der vergangenen Tage das Schlimmste ausgestanden?

Tatsache ist, dass die Wall Street und mit gewissen Abstrichen auch andere Aktienmärkte seit März 2009 einen sehr langen Aufschwung erlebten – der Dow Jones verzeichnete bis dato eine Vervierfachung seit dem Tief nach der Finanzkrise. Damit ist der aktuelle Bullenmarkt mit 131 Monaten der längste in der Geschichte der US-Börsen, wobei frühere Aufwärtsphasen meist weniger Ertrag einspielten. Dazu kommt, dass für Unternehmen des Dow-Jones-Index trotz der jüngsten Preisrückgänge im Schnitt mehr als der 20-fache Jahresgewinn zu bezahlen ist. Die Wall Street ist also noch immer teuer, was sie anfällig für Preiskorrekturen macht.

Bremsspuren in Wirtschaft

Zudem hat sich das Coronavirus zu einer Pandemie ausgeweitet, die entsprechende Bremsspuren in den Volkswirtschaften und Unternehmensgewinnen hinterlassen wird. Das erste Quartal ist bereits abzuhaken: Im Februar sind in China die volkswirtschaftlichen Vorlaufindikatoren auf das tiefste jemals gemessene Niveau gefallen, und etliche Weltkonzerne wie Apple haben bereits Gewinnwarnungen ausgesprochen.

Für die weitere Entwicklung wird auf der einen Seite ausschlaggebend sein, wie lange die Einschränkungen in China bestehen bleiben und wie stark diese in anderen Ländern noch ausfallen werden. Auf der anderen Seite, wie die stark geldpolitischen Maßnahmen der Notenbanken aussehen und ob sich die Fiskalpolitik mit erhöhten Staatsausgaben vor den volkswirtschaftlichen Karren spannen lässt. Im besten Fall bleibt die ökonomische Schwäche auf das erste Quartal beschränkt, dann könnten die Aktienmärkte nach der derzeitigen Korrektur ihren Aufwärtstrend wieder fortsetzen.

Nach hinten losgegangen

Allerdings ist der als Beruhigungspille für die Finanzmärkte gedachte Schnellschuss der US-Notenbank Fed nach hinten losgegangen. Da die Zinssenkung von Dienstag um einen halben Prozentpunkt auf die neue Spanne von ein bis 1,25 Prozent unüblicherweise zwischen den regulären Zinssenkungen erfolgte, nährte diese eher die Sorgen der Investoren. Denn früher agierte die Fed nur in Krisensituationen – wie 2000 nach dem Platzen der Internetblase oder 2008 nach der Lehman-Pleite – auf diese Art.

Aber was können Notenbanken gegen das Coronavirus überhaupt ausrichten? Für Volkswirt Gerhard Winzer von Fondshaus Erste Asset Management ist die Zinssenkung der Fed geeignet, die Verschärfung des Finanzumfelds wie gefallene Aktienkurse oder höhere Renditeaufschläge für Kreditrisiken zu lindern. Dies soll negative Rückkopplungen von fallenden Aktienkursen auf das Wirtschaftswachstum eindämmen.

Falsches Signal

Als "falsches Signal" bezeichnet Wolfgang Habermayer von der Finanzberatung Merito die Hauruck-Aktion der Fed. Die Notenbanken könnten nur die Nachfrage stimulieren, die Probleme seien aber angebotsseitig zu suchen, etwa wegen Quarantänemaßnahmen oder durchbrochener Lieferketten. "Wenn das noch ein Quartal anhält, schaut es nicht gut aus", sagt Habermayer. Dann würde die Rezessionswahrscheinlichkeit steigen und den Börsen ein Bärenmarkt drohen, also eine Phase von zumindest um 20 Prozent fallenden Kursen. Anleger sollten sich verhalten wie Autofahrer bei Starknebel, rät Habermayer: abwarten und Risiken meiden.

Pessimistischer stuft US-Ökonom Nouriel Roubini die Lage ein: Er geht davon aus, dass das Coronavirus zu wirtschaftlichen und geopolitischen Krisen führen werde, also in ein globales Desaster münde. Die Börsen könnten um bis zu 40 Prozent einbrechen. Ähnlich dramatisch klingen einige neuere Buchtitel. Das Highlight darunter: Der größte Crash aller Zeiten der beiden Vermögensberater Marc Friedrich und Matthias Weik, die bis spätestens 2023 schwere ökonomische Verwerfungen vorhersagen.

So schlimm muss es freilich nicht kommen, zumal ein solches Finanzbuch auch reißenden Absatz finden soll. Oder würden Sie eher ein Werk mit dem Titel Kein Crash in Sicht kaufen?(Alexander Hahn, 5.3.2020)