An der griechisch-türkischen Grenze bei Kastanies stehen sich griechische Polizisten und Flüchtlinge sowie Migranten gegenüber – getrennt durch einen Stacheldrahtzaun.

Foto: EPA / Dimitris Tosidis

Bescheidenheit und diplomatische Zurückhaltung sind nicht die Eigenschaften, die Recep Tayyip Erdoğan auszeichnen. "Er ist aufbrausend, unberechenbar, kehrt Machoallüren hervor", erinnern sich Verhandler der EU-Kommission, die mit dem türkischen Präsidenten 2016 den ersten EU-Türkei-Pakt verhandelten. Nachsatz: Nur mit "gutem Zureden" komme man bei ihm nicht weiter. Erdoğan sei knallhart, wechsle oft die Position. Diese Taktik bekommen die Europäer seit Tagen wieder stark zu spüren.

Vor dem Wochenende hatte der Präsident mit dem Bruch des Abkommens provoziert, indem er in der Türkei lebende Migranten und Flüchtlinge dazu aufrief, sich in Richtung EU aufzumachen. Tausende kamen dem nach.

Erdoğan polterte, die EU müsse mehr tun für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge. Am Dienstag verkündete er, dass sein Land die Milliarden aus Brüssel nicht brauche. Am Mittwoch stellte er neue Bedingungen, forderte die EU auf, "die politischen und humanitären Bemühungen der Türkei in Syrien zu unterstützen".

Für die EU-Partner hat er damit eine noch kompliziertere Lage geschaffen. Nach der militärischen Eskalation in Idlib sind hunderttausende Syrer auf der Flucht. Erdoğan hat die Grenze überschritten, seine Truppen sind in Kampfhandlungen involviert. Wie die EU in einem Kriegsgebiet humanitäre Hilfe leisten soll, weiß nur er.

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Gespräche auch mit Putin

Dennoch wird mit Erdoğan seit Tagen auf höchster politischer Ebene verhandelt, um zumindest den Türkei-Pakt fortsetzen zu können. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sind in ständigem Kontakt, auch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, der im Syrien-Krieg eine Schlüsselrolle spielt.

EU-Außenbeauftragter Josep Borrell verhandelte parallel in Ankara und erklärte dort, dass die EU zusätzlich 170 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Syrien bereitstellt, und zwar im Nordwesten des Landes.

Wie DER STANDARD erfuhr, soll ein erneuerter Pakt "eher binnen Wochen als Monaten" stehen. Die Kommission bereitet bereits vor, wie die Mittel dafür aufgebracht werden können, was naturgemäß budgetäre Anpassungen im EU-Haushalt erfordert.

Der EU-Türkei-Vertrag von März 2016 sieht vor, dass die Regierung in Ankara alles unternimmt, um die illegale Migration in den EU-Raum zu unterbinden. Im Gegenzug erhielt er von den EU-Staaten sechs Milliarden Euro, die zur Versorgung der 3,8 Millionen Syrien-Flüchtlinge dienten.

Bis zu eine Milliarde Euro mehr

Die Versorgung wurde ausgeführt von NGOs und internationalen Organisationen, die das Geld direkt von der EU bekamen. Nun soll draufgelegt werden: 2020 mindestens einige hundert Millionen Euro bis zu einer Milliarde, wie es heißt. Das hängt ganz davon ab, welche neuen Bedingungen daran geknüpft sind.

Die EU-Staaten wollen also für syrische Flüchtlinge in der Türkei weiter zahlen, was pro Person viel billiger ist, als wenn sie in EU-Staaten versorgt werden müssten. Das Programm zur Neuansiedlung von Flüchtlingen von der Türkei in ein EU-Land hatte bescheidenen Erfolg: Nur rund 25.000 Menschen kamen in die Union.

Die EU-Innenminister kamen am Donnerstag in Brüssel zu einem Sondertreffen zusammen. Dabei wurde bekräftigt, was von der Leyen tags davor durch die Zusage von 700 Millionen Euro für Griechenland schon gezeigt hatte: Die EU will alles tun, damit die Außengrenzen im Südosten halten. "Illegale Grenzübertritte werden nicht toleriert", hieß es in der Erklärung, auf die sich die Minister der 27 EU-Länder bei ihrem Sondertreffen einigten. "Fällt die Außengrenze, fällt auch das grenzenlose Europa", sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) danach.

Humanitäre Hilfe beim Treffen kein Thema

Hinsichtlich der Medienberichte über Gewalttaten von griechischen Grenzschutzbeamten gegenüber Flüchtenden räumte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ein: "Niemand kann sicher sagen", ob derzeit alle Maßnahmen an der griechisch-türkischen Grenze internationalem Recht entsprächen. Sie könne nur dazu aufrufen, dieses Recht einzuhalten.

In ihrer Erklärung setzten die Innenminister allerdings keinen humanitären Akt, um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Lagern auf griechischen Inseln rauszuholen und in andere EU-Staaten zu bringen. Der deutsche Vertreter Horst Seehofer hatte kurz vor dem Treffen erklärt, man werde sich "zeitnah" mit der Übernahme minderjähriger Flüchtlinge beschäftigen.

Auch Luxemburg hatte sich unmittelbar vor dem Treffen für eine Entlastung der griechischen Migrantenlager auf den Ägäisinseln eingesetzt. Man wolle selbst zehn Kinder und Jugendliche übernehmen. "Ich glaube, es muss einer anfangen", sagte der zuständige Minister Jean Asselborn. Jedes EU-Land solle für jede halbe Million Einwohner je zehn unbegleitete Minderjährige "aus diesem Loch herausholen", schlug er vor. "Dann wäre viel Leid auf dieser Welt gelöst."

Soforthilfe aus Deutschland

Der deutsche Justizminister Heiko Maas kündigte am Donnerstag indes an, 100 Millionen Euro an Soforthilfe für die Menschen in Idlib bereitzustellen. Voraussetzung dafür seien aber der Schutz von Helfern und der Bevölkerung. "Russland muss Druck auf das Assad-Regime ausüben, damit die Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen endlich aufhören", mahnte Maas. Hilfsorganisationen müssten "auch in Zukunft grenzüberschreitenden Zugang zu den notleidenden Menschen erhalten".

Türkei schickt mehr Polizisten

Die Türkei kündigte am Donnerstag an, 1000 zusätzliche Polizisten an die Grenze zu Griechenland zu verlegen. (Thomas Mayer aus Brüssel, red, 5.3.2020)