Vater und Sohn fahren im Auto. Sie haben einen schweren Unfall, bei dem der Vater sofort stirbt. Der Bub wird schwer verletzt in ein Krankenhaus gebracht und muss sofort operiert werden. Bei seinem Anblick jedoch erblasst einer der diensthabenden Chirurgen und sagt: "Ich kann nicht operieren, das ist mein Sohn!"

Wer ist diese Person?

Nach diesem Rätsel werden Sie wissen, ob sie einen Gender-Bias haben.
DER STANDARD

Das Rätsel stammt von der Wissenschafterin Annabell Preussler, die damit die Grenzen unseres Sprachgebrauchs aufzeigt. Die Antwort lautet nämlich: Der "diensthabende Chirurg" ist die Mutter des Buben.

Es ist das Jahr 2020. Bei Risiken und Nebenwirkungen fragt man immer noch "den Arzt oder Apotheker". "Zivilisten" werden im Krieg getötet oder vertrieben, "Experten" und "Beobachter" schätzen die Lage ein. Versuche, Frauen* sichtbar zu machen, werden immer wieder als "Genderwahn" oder "Verhunzung der Sprache" abgetan. Diese seien ohnehin mitgemeint.

Es wird eher an Männer gedacht

Doch Studien belegen, dass durch das generische Maskulinum eher an einen Mann beziehungsweise mehrere Männer gedacht wird – das mit dem "mitgemeint" also nicht sonderlich gut funktioniert. Schon 2001 wurde etwa in einer Studie nach berühmten Persönlichkeiten gefragt. Wurde dabei die männliche Form verwendet ("Nennen Sie drei Politiker"), nannten die Testpersonen deutlich mehr Männer als bei Fragen in Paarform ("Politiker und Politikerinnen") und mit Binnen-I ("PolitikerInnen").

Auch nach beliebten Persönlichkeiten wurde gefragt: in männlicher Form ("Ihr liebster Romanheld"), in neutraler ("Ihre liebste heldenhafte Romanfigur") und in Paarform ("Ihre liebste Romanheldin, ihr liebster Romanheld"). Auch hier wurden bei der gendergerechten Formulierung mehr Frauen genannt.

Mit geschlechtergerechter Sprache werde "eine andere Sicht auf die Welt geschaffen, in der Männer* nicht die prototypische Erstbesetzung sind", sagt dazu die Linguistin Karin Wetschanow, die unter anderem am Institut für Germanistik an der Universität Wien lehrt. "Gedanklicher Einbezug bewirkt Wahrnehmen von Chancen, macht Räume auf, zeigt Beteiligungen von Frauen* an kulturellen Leistungen, historischen Ereignissen auf."

Keine "echte" Diskriminierung?

Immer wieder wird Befürworter*innen gendergerechter Sprache auch vorgeworfen, dass Gendern ja nichts an der Realität ändere, man sich lieber um "echte" Diskriminierung statt um sprachliche kümmern solle. Dabei wird übersehen, dass beides Hand in Hand geht. Mehrere Studien belegen, dass geschlechtergerechte Sprache Einfluss auf Gleichstellung haben kann. Das fängt schon damit an, wo die Lebensplanung ihren Ursprung nimmt: In einer Studie aus dem Jahr 2015 wurden Volksschulkindern Berufsbezeichnungen vorgelesen: entweder in Paarform ("Ingenieurinnen und Ingenieure"), oder in der männlichen Pluralform "die Ingenieure". Waren Berufe in gendergerechter Sprache bezeichnet, schätzten Mädchen "typisch männliche" Berufe als erreichbarer ein und trauten sich eher zu, diese zu ergreifen.

Eine ebenfalls 2015 publizierte Studie zeigt, dass die Formulierungen in Jobausschreibungen beeinflussen, ob Frauen für eine Position als geeignet oder ungeeignet empfunden werden. Testpersonen schätzten Männer als passender für die Stelle ein, wenn die männliche Form, etwa "Geschäftsführer", verwendet wurde – auch wenn der Zusatz m/w dabeistand. War die Ausschreibung in Paarform ("Geschäftsführerin/Geschäftsführer") formuliert, wurden Frauen und Männer als geeignet für die Position empfunden.

Lesbarkeit und Ästhetik

Kritiker*innen geschlechtergerechter Sprache bezeichnen die Formulierungen oft als umständlich, unverständlich oder unleserlich. Linguistin Wetschanow hat allerdings die Erfahrung gemacht, dass Texte sogar besser werden würden: "Einmal mehr darüber nachdenken, was ich eigentlich wirklich sagen will, und prüfen, ob mein Satz das denn auch wirklich leistet, hat noch keinem Text geschadet."

Außerdem gibt es auch dazu Studien. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2010 zu Nachrichtentexten zeigte, dass die geschlechtergerechten Formen zu einer "angemesseneren gedanklichen Berücksichtigung von Frauen" beitragen, ohne dabei Lesbarkeit und Textästhetik zu beeinträchtigen. Ein weiteres Experiment aus dem Jahr 2019, bei dem Testpersonen unterschiedlich formulierte Stromverträge vorgelegt wurden, ergab bei der Verständlichkeit keinen signifikanten Unterschied zwischen der maskulinen ("Kontoinhaber") und der Paarform ("Kontoinhaber oder Kontoinhaberin"). Die Testpersonen schätzten aber die zweite Version als etwas weniger ästhetisch ein. "Aus linguistischer Sicht lassen sich diese sprachästhetischen Argumente nicht halten", sagt Claudia Posch, Sprachwissenschafterin an der Universität Innsbruck, dazu. "Sprache ist nicht dazu da, schön oder hässlich zu sein." Ein Wort wie "Dienstleistungsrichtlinie" sei ja auch nicht schön.

Beeinflussung des Alltags

Posch lässt auch das Gegenargument "Mit Gendern wird der Lesefluss gestört" nicht gelten. Man brauche nur wenige Anhaltspunkte, um ein Wort lesen und erfassen zu können, auch wenn die Buchstaben komplett durcheinander sind, sei das möglich. "Es wird gut gelesen, es wird nur nicht gemocht."

Ärger und Hass sind in der Tat bei jedem Versuch, geschlechtergerecht zu formulieren, groß, egal ob es sich um die Empfehlung einer Universität oder eine neue Richtlinie eines Magazins handelt. "Es trifft die Leute sehr persönlich", sagt Claudia Posch dazu. "Sie müssen selber etwas überdenken, was sie alltäglich machen, seit ihrer Kindheit können. Das ist für viele bedrohlich und mühsam."

In der queer-feministischen Szene ist man längst weiter. Hier wird nicht mehr über Ästhetik und Lesbarkeit debattiert, auch das Binnen-I oder die rein weibliche statt der männlichen Form sind passé. Diese werden als diskriminierend angesehen, weil sie Menschen, die sich weder mit dem weiblichen noch mit dem männlichen Geschlecht identifizieren, ausschließen. Um diese sichtbar zu machen, werden etwa Gendersterne, Doppelpunkte oder Unterstriche verwendet.

Der Genderstern macht mehr als zwei Geschlechter sichtbar. Auf ähnliche Weise will der Gender-Gap (Radfahrer_innen) symbolisch Platz für Unbenannte machen. Der Doppelpunkt (Radfahrer:innen) gilt als dezentere Alternative.
Foto: Wikipedia/Coyote III

Das Professor

Doch auch hier gibt es Kritik. Ähnlich wie bei den Formen, bei denen das Weibliche nach einem Schrägstrich oder in Klammer folgt, lehnt etwa die deutsche Linguistin Luise Pusch die Vorstellung ab, dass nur der allerletzte Teil eines Wortes Frauen zugedacht sei. Sie sorgte bereits 1978 mit ihrem Werk "Das Deutsche als Männersprache" für Aufsehen, in dem sie vorschlägt, "das Professor" als Geschlechtsabstraktion zu verwenden und erst zur Spezifikation dann "der/die Professor". Endungen wie -in oder -innen sollten zur Gänze wegfallen, damit "Frauen die Bausteine der Wortbildung (zurück-)erobern". Das sei immer noch vorstellbar, sagt Claudia Posch von der Universität Innsbruck. Im Englischen gibt es kaum noch weibliche Endungen bei Personenbezeichnungen. Veraltete Endungen wie das noch aus dem Altfranzösischen stammende "-ess" (zum Beispiel bei "Actress") seien inzwischen ebenfalls nahezu verschwunden.

Doch Posch stellt auch klar, dass keine Form eine fertige Lösung darstellen kann. "Die Sprache ist niemals fertig, sie entwickelt sich immer weiter. Man könne keine Form gesetzlich oder innerhalb eines starren Regelwerkes vorschreiben. "Dann erstarrt es und verliert die Wirkung. Ich kann nicht mehr weiter damit experimentieren." Sprachliche Revolution und Benimmregeln wären nicht gleichzeitig möglich.

Zugleich hält Posch fest, dass Gleichberechtigung natürlich nicht bei geschlechtergerechter Sprache aufhöre. Sie könne ein Versuch sein, "die Sprache, die wir haben, die tendenziell Sexismen weitertradiert, weniger sexistisch zu machen", sagt Posch. Isoliert bringe das freilich wenig, es könne nur dazu beitragen. Durch ein Binnen-I werde ein sexistischer Text etwa nicht besser. "Und ein gegendertes Editorial bringt auch nichts, wenn alle in dem Magazin vorkommenden Frauen nur Nagellackwerbung machen." (Text: Noura Maan, Video: Antonia Titze, Maria von Usslar, 8.3.2020)