Seit einem Jahr wird in der Innsbrucker Klinik eine neue Fragetechnik bei der Aufnahme von Patienten erprobt, die beim Erkennen von Gewaltopfern helfen soll.

Foto: Christian Fischer

Innsbruck – Es war im Urlaub in Schweden, als der Psychologe Thomas Beck medizinische Hilfe benötigte. Trotz der eigenen Notlage fiel ihm in der Ambulanz in Stockholm auf, dass man ihm bei der Aufnahme drei Fragen stellte, die eigentlich nicht direkt mit seinem medizinischen Problem zu tun hatten. Beck, der an der Innsbrucker Klinik die Opferschutzgruppe leitet, wurde dennoch hellhörig. Es waren nämlich drei Fragen, die in Schweden bewusst allen Patienten gestellt werden, um herauszufinden, ob sie Opfer von Gewalt wurden und Hilfe benötigen.

Beck informierte sich, was die schwedischen Kollegen da entwickelt hatten, und seit April 2019 werden nun auch allen Patienten in der Notaufnahme und der chirurgischen Ambulanz der Tirol-Kliniken diese drei Fragen gestellt: Weiß jemand, dass Sie hier sind? Darf jemand nicht wissen, dass Sie hier sind? Gibt es jemanden in Ihrer Umgebung, der Ihnen Unbehagen oder Angst bereitet?

Bis zu einem Drittel der Patienten betroffen

Die Erfahrungen mit der neuen Technik sind nach knapp einem Jahr sehr positiv. Während es seitens des Personals noch Aufklärungs- und Schulungsbedarf gibt, dem man laufend nachkommt, reagieren vor allem die Patienten sehr positiv auf die Fragen. Auffallend sei, so Beck, dass viele die dritte Frage mit Ja beantworten. Das stützt die These diverser Studien, die davon ausgehen, dass 25 bis 35 Prozent aller Patienten von häuslicher Gewalt betroffen sind.

Wie wichtig es ist, Gewaltopfer anzusprechen, zeigen ebenfalls die Zahlen, sagt Beck: "Eine große Studie in unserer Klinik hat gezeigt, dass wir bisher Ansprechraten von sechs Prozent bei Gewaltopfern hatten." Dieselbe Studie ergab zudem, wie Klaus Kapelari, leitender Oberarzt an der Innsbrucker Kinderklinik und der dortigen Kinderschutzgruppe, sagt, dass sich knapp 80 Prozent aller Patienten wünschen würden, auf etwaige Gewalterfahrungen angesprochen zu werden. Damit bringt die neue Fragetechnik sowohl für die Ärzte als auch für deren Patienten einen großen Mehrwert.

Kinder und Jugendliche besonders sensibel

Bei Kindern und Jugendlichen wird die Fragetechnik allerdings abgewandelt, erklärt Kapelari. Während Jugendliche, je nach Situation oder wenn sie unbegleitet in der Klinik erscheinen, befragt werden, macht es bei jüngeren Kindern insofern wenig Sinn, als sie "anders vorgestellt werden". Sprich: Erwachsene suchen selbstbestimmt die Klinik auf, während Kinder in der Regel in Begleitung kommen. Allerdings, so Kapelari, liegt das Hauptaugenmerk in Verdachtsfällen – etwa wenn die Betroffenen auffallend oft kommen – auf der erwachsenen Begleitperson, der die Fragen gestellt werden können, auch wenn sie selbst gar nicht Patient ist.

Beck und Kapelari vergleichen Gewalterfahrungen mit einer Krankheit, um zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, darauf einzugehen: "Wenn man von bis zu 35 Prozent Betroffenen ausgeht, wäre das so, als würden die Ärzte nicht nach einer Krankheit fragen, die eine so große Gruppe von Patienten betrifft. Das wäre aus medizinischer Sicht unverantwortlich."

Umdenken braucht Zeit

Natürlich werden akute medizinische Notfälle zuerst behandelt und nicht befragt. Doch beim Gros der Patienten bewirken die Fragen, auch wenn sie vielleicht anfangs nichts damit anfangen können, einen Prozess der Bewusstseinsbildung, wie Beck ausführt: "Die Leute fangen an nachzudenken, denn diese Fragen sind auch in der Klinik auf Aushängen zu lesen. Das ist wichtig, weil für viele von Gewalt Betroffene ist das, was ihnen widerfährt, die Normalität." Manche fangen erst beim zweiten oder dritten Ambulanzbesuch an zu reden, weil sie dann bemerken, dass es eben nicht normal ist und sie Hilfe erhalten können.

Im April wird die neue Fragetechnik evaluiert. Bisher sind die Erfahrungen der Innsbrucker durchwegs positiv, und andere österreichische Kliniken warten bereits gespannt auf das Ergebnis. Psychologe Beck warnt aber vor zu hohen Erwartungen: "Die Kultur des Schweigens zu durchbrechen wird Jahre dauern. So wie es Jahre gedauert hat, bis die Gesellschaft gelernt hat, dass Ohrfeigen für Kinder nicht akzeptabel sind." (Steffen Arora, 6.3.2020)