Im Gastkommentar verteidigt der Wissenschafter David M. Wineroither den europäischen Einigungs- und Integrationsprozess.

Das politische Europa, im Sinne einer Koordinierung einer Vielzahl der Staaten des Kontinents, wie auch die Union als supranationaler Staatenbund beschreiben bei aller Unzulänglichkeit Erfolgsgeschichten ersten Ranges. Die EU bildet in erstaunlichem Maße die Interessenvielfalt der Gesellschaften Europas ab:

Die europäische Integration stellt ein gigantisches Friedensprojekt und demokratisches Stabilitätsprogramm dar. Hier ist sie unbestritten am erfolgreichsten. Ein Zug in Richtung illiberaler Demokratie, der sich in Teilen Osteuropas in Gang gesetzt hat, schmerzt deshalb doppelt. Wofür die Einigungsbestrebungen sogleich mitverantwortlich gemacht werden sollen: Konstruktionsfehler im Vertragswerk werden bemängelt als geteilte Schuld nationaler Regierungen und europäischer Institutionen; und überhaupt sei die Osterweiterung ab 2004 eine überstürzte Aufnahme.

Pro Status quo

Längeres Zuwarten als Zauberformel? Damit hätte man sich und die jungen Demokratien der begründeten Gefahr eines Dazwischengehens autokratischer Mächte (vor allem Russlands) sowie systemischer Krisen (Finanzkrise 2008) ausgesetzt. Zudem ist ein Abgleiten auf autoritäre Pfade auf höherem wirtschaftlichem Entwicklungsniveau und bei höherem demokratischem Konsolidierungsgrad denkbar. Bitter und vielsagend, dass sich diese Kehrtwende auch unter ehemaligen Vorreitern der demokratischen Konsolidierung vollzieht. Kein Land kann von außen vor sich selbst gerettet werden!

Man mag die europapolitische Stagnation einer "vertraglosen" Dekade seit "Lissabon" an einer Visionslosigkeit der Eliten festmachen. Fakt ist, dass es für eine große Abkehr vom Status quo keine Mehrheit in den Gesellschaften gibt. Nicht für das Progressiv-Liberale eines "Bundesstaates Europa", nicht für das nationalkonservativ angehauchte Retroprogramm eines "Europas der Vaterländer": Ersteres würde eine Überforderung seiner Bürger und Institutionen bedeuten, Letzteres in eine Selbstabschaffung Europas münden.

Rechte Halluzination

Rechte "Patrioten" treten als Vorgaukler einer Halluzination in Erscheinung, wonach sämtliche Annehmlichkeiten einer europäischen Verständigung zum Nulltarif (weiter) konsumieren zu wären in Abwesenheit einer politischen Union. Ein Vorgeschmack: Die strenge Einzellandespolitik mancher Länder hatte 2015 kaum befriedete Konflikte aufbrechen lassen. Die gefährlichste Zuspitzung fand auf dem Westbalkan statt, inmitten einer hochexplosiven Gemengelage im territorialen Dreieck der Parteien im Kroatien- und Bosnienkrieg. In Griechenland wiederum drohten Rechtsextremisten, bereits in der Regierung, im Nachgang zur blutigen Attacke auf Charlie Hebdo, unter Flüchtlinge gemengte Terroristen nach Westeuropa durchzuwinken. Einen effektiven Grenzschutz zum kleinen Tarif, worauf im Herzen Europas gelegene Staaten wie Österreich mit mancher Berechtigung setzen dürfen, kann es nur im Rahmen der Union geben.

Wie umgehen mit den Flüchtlingen, die in Europa Schutz suchen? Die EU-Staaten sind uneins. Dabei hat sich die Lage im Südosten der Europäischen Union zuletzt wieder verschärft.
Illustration: Felix Grütsch

Mit der Mitgliedschaft in der EU ist eine historisch einmalige Form des politischen Ausgleichs verknüpft: Die internationale Politik war immer schon ein ungemütlicher Platz gewesen. Die Trump-Administration verdeutlicht, dass Einschüchterungen selbst innerhalb der westlich-demokratischen Staatengemeinschaft zum guten Ton der Großmächte gehören können. Was für Europa, und erst recht das Vereinigte Königreich, im Verhältnis zu den USA oder China gilt, gilt ganz genauso im internen Verhältnis: Ohne Europa, ob Handelskonflikt und Standortwettbewerb, Migrationskrise oder Ethnienstreit, würde Groß über Klein dominieren und Nachbar gegen Nachbar in den Ring steigen. Wie im Falle des Brexitprogramms, das Westminster auf dem Rücken der Gliedstaaten vollzieht. In der EU hingegen wirkt ein blasser Schatten der Hierarchie: Eine Nettozahlerallianz lässt das deutsch-französische Tandem schön grüßen!

Kein Einheitsbrei

Das politische System der EU teilt die Herausforderungen der Mitgliedsstaaten – bei erheblicheren Fliehkräften. Auch im nationalen Kontext beschreiben Demokratiereformen den Ausfluss eines Gezerres an unterschiedlichen Enden, bilden selten ein "Grand Design" ab: Die Aushebelung der Parlamentssouveränität im Großbritannien der Johnsons und Blairs gehört dazu und der von Strukturproblemen geplagte belgische Immobilismus. In Österreich ermöglichen der offene Charakter des Bundesverfassungsgesetzes und die früh in der Zweiten Republik aufgepflanzte konsensdemokratische Regierungsweise eine weitgehend reibungslose, dabei vielgliedrige Anpassung. So werden sich die europäischen Demokratien in ihrer Praxis ein Stück ähnlicher, ohne auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. So auch die sich in einem Hybridmodus befindliche EU mit ihrem Nebeneinander von Einstimmigkeitserfordernis, qualifiziertem Mehrheitsregulativ und abgestufter Integration. Falsch ist daher letztlich der Vorwurf eines supranationalen Einheitsbreis: Demokratien mit Eigenschaften!

Das alles regt die europapolitische Fantasie beim Wähler kaum an – ein Luxusproblem! Die eingetretene Stagnation ist den Wachstumsschritten der Vergangenheit geschuldet und Entwicklungen, die politischen Konsens erschweren und Polarisierung befördern. Mehr noch innerhalb der Gesellschaften der Mitglieder als zwischen diesen. Politische Eliten haben diese Stagnation nicht herbeigeführt – sie verwalten diese mal recht, mal schlecht. Umfragen legen nahe, dass die Mitgliedschaft von den Unionsbürgern so sehr begrüßt wird wie kaum zuvor: Die Fundamentaldaten passen! (David M. Wineroither, 7.3.2020)