An der Grenze bei Kastanies werden griechische Soldaten und Feuerwehrleute mit Tränengas beschossen..

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Die türkische Küstenwache in der Nähe der Insel Lesbos.

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Athen/Brüssel – Der STANDARD hat erfahren, dass der türkische Präsident Tayyip Erdoğan seine Teilnahme an Gesprächen in Brüssel bestätigt hat. Ziel des Treffens am Montag sei die Lösung der aktuellen Migrationskrise an der griechisch-türkischen Grenze, aber auch eine grundsätzliche Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen der EU und der Türkei, hieß es zuvor in Medienberichten, in denen über eine Brüssel-Reise von Erdoğan gemutmaßt wurde.

Die Beziehungen zwischen der EU und Ankara sind angespannt: Die Türkei beschuldigt die EU, ihre Zusagen aus dem im März 2016 geschlossenen Flüchtlingsabkommen nicht einzuhalten. Brüssel wiederum wirft der Türkei vor, Migranten und Flüchtlinge als Druckmittel zu missbrauchen.

In einem Interview mit dem STANDARD wiederholte der EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn kürzlich die Vorwürfe: Er sieht es als sicher an, dass die Lage an der Grenze zu Griechenland "von der Regierung in Ankara gesteuert wurde". Erdoğan habe eine Reihe innenpolitischer Probleme, also suche er "im Reflex Gegner außerhalb". Der Grenzkonflikt sei nur "ein Ausfluss daraus", erklärt Hahn.

EU unter Bedingungen zu weiteren Türkei-Hilfen bereit

In einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" stellte Hahn die Bedingungen für Hilfen in der Flüchtlingskrise: Weitere Finanzhilfen könne es nur geben, wenn "die erpresserische Politik Ankaras durch die Entsendung von Flüchtlingen in Richtung EU eingestellt wird", sagte Hahn. "Es geht dabei um rund eine halbe Milliarde Euro, die wir intern kalkulieren", sagte der Österreicher dem STANDARD. "Die Mittel kommen aus den Reserven des EU-Haushalts."

Das Geld werde wie bisher zum überwiegenden Teil direkt an Flüchtlinge gehen. Insbesondere im Bildungsbereich, bei Schulen und Sprachausbildung, gebe es für 2020/21 noch Bedarf.

Küstenwachen gerieten in Ägäis aneinander

Trotz internationaler Bemühungen um eine Entschärfung der Migrationskrise lösen neue gefährliche Zwischenfälle Besorgnis aus. So soll die türkische Wasserpolizei in der Ägäis ein griechisches Boot der Küstenwache abgedrängt und dabei riskante Manöver vollführt haben. Griechische Medien veröffentlichten entsprechende Videoaufnahmen. An der türkisch-griechischen Grenze wurde Tränengas eingesetzt.

Ein auf Lesbos stationierter griechischer Wasserpolizist bestätigte am Samstag den Küstenwachen-Vorfall vom Vortag. "Die wollten uns rammen", sagte er. Erdoğan wies die Küstenwache an, Migranten nicht mehr mit Booten die Ägäis durchqueren zu lassen. Gemeint ist die Überfahrt nach Griechenland, also in die EU. "Illegale Migranten-Überfahrten durch die Ägäis sind wegen der Risiken nicht erlaubt (...)", heißt es unter Berufung auf eine Anweisung des Präsidenten in einer Stellungnahme der türkischen Küstenwache.

Die türkische Küstenwache beschudligt Griechenland, Flüchtlingsboote in Gefahr zu bringen. Sie habe am 5. März 97 Migranten von drei Booten gerettet, die von Griechenland halb gesunken zurückgelassen worden seien. Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis nannte es völlig inakzeptabel, beschuldigt zu werden, Migranten in Zeiten großer Not nicht anständig zu behandeln. "Griechenland hat während der gesamten (Flüchtlings-)Krise seine Menschlichkeit bewiesen." Das Land habe über Jahre seine Häuser und Herzen für die Flüchtlinge geöffnet.

Nach griechischen Medienberichten unterstützen türkisches Militär und Polizisten Migranten beim Versuch, Griechenlands EU-Außengrenze zu überwinden. Der griechische Staatssender ERT zeigte am Samstag Videos, in denen türkische Soldaten Migranten mit Schlägen und Tritten Richtung Grenze drängen. Zudem sei ein Rauchbomben- und Tränengasregen zu sehen, der von türkischer Seite Richtung griechische Grenzer über den Zaun abgefeuert worden sei.

"Flüchtlingspakt tot"

Für Mitsotakis ist der Flüchtlingspakt gestorben. "Ganz ehrlich? Im Moment ist die Vereinbarung tot", sagte Mitsotakis in einem Interview des Senders CNN. "Mit was wir es zu tun haben, ist nicht ein Migrations- oder Flüchtlingsproblem. Es ist der bewusste Versuch der Türkei, Flüchtlinge und Migranten als politische Bauernopfer zu benutzen, um die eigenen politischen Interessen zu verfolgen", sagte Mitsotakis.

In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 sagte die Türkei zu, gegen illegale Migration vorzugehen. Ankara erhält finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land. Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Erdoğan dringt jedoch auf weiteres Geld.

27 Festnahmen

Hunderte Menschen drängten sich auf türkischer Seite am Grenzzaun. Seit die Türkei am 28. Februar erklärt hat, sie werde Migranten nicht mehr vom Übertritt der Grenze abhalten, haben bereits Tausende Menschen versucht, nach Griechenland und damit in die Europäische Union zu gelangen. Allein bis Samstag früh gab es nach Angaben aus der griechischen Regierung binnen 24 Stunden mehr als 1200 Versuche, die Grenze zu überwinden. 27 Menschen seien festgenommen worden.

Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen auf den griechischen Inseln hat die Regierung in Athen den Bau zweier zusätzlicher Flüchtlingslager angekündigt. Die provisorischen Flüchtlingslager sollten im nordgriechischen Serres und im Großraum Athen errichtet werden und insgesamt 1000 Plätze umfassen, sagte Migrationsminister Notis Mitarakis am Samstag im Sender Skai TV.

Mitarakis sagte, die neuen Flüchtlingslager seien für Asylbewerber bestimmt, die seit dem 1. März auf den Ägais-Inseln eingetroffen seien – dem Tag, an dem die türkische Regierung ihre Grenzen zur EU für Flüchtlinge öffnete. "Wir brauchen die Unterstützung der örtlichen Gemeinden", betonte Mitarakis. "Wir können all diese Menschen nicht auf den Inseln lassen.(red, APA, 7.3.2020)