Wien – Dass Abgeordnete einer Regierungspartei auf die Straße gehen und dort gegen die Politik der Regierung demonstrieren, ist schon eher ungewöhnlich. In Österreich ergibt sich diese seltsame Konstellation aus der Koalition, die ÖVP und Grüne eingegangen sind. Zumindest zwei Nationalratsabgeordnete der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic und Faika El-Nagashi, sowie zahlreiche weitere grüne Funktionäre nahmen am Freitag in Wien in vorderster Reihe an einer Kundgebung teil, in der die restriktive Linie der österreichischen Asylpolitik kritisiert und unter anderem die Aufnahme von Flüchtlingen gefordert wurde. Das Motto lautete: "Wir haben Platz!"
Zu der Demonstration hatte eine Reihe von Organisationen aufgerufen, darunter Asylkoordination, die Grünen Gewerkschafter, Reporter ohne Grenzen und die Omas gegen rechts. Protestiert wurde gegen die "brutale und mörderische Schließung der Grenzen zwischen der EU und der Türkei" als auch gegen den österreichischen Beitrag zu dieser "Asylverhinderungspolitik".
Die Abgeordnete Ernst-Dziedzic, auch stellvertretende Klubobfrau der grünen Fraktion im Parlament, reiste am samstag nach Lesbos. Nach einem Besuch in dem völlig überfüllten Flüchtlingslager Moria forderte sie ein "sofortiges Handeln". Die Zustände, vor allem für Kinder, seien "verheerend", sagte Ernst-Dziedzic am Sonntag.
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat dafür gar kein Verständnis. Österreich habe bereits genügend Flüchtlinge aufgenommen und wird freiwillig nicht noch mehr aufnehmen, versicherte er am Sonntag in der ORF-Pressestunde. Die Debatte über die Aufnahme von Frauen und Kindern aus den Lagern auf den griechischen Inseln hält er für unredlich. Zum einen könne man Frauen und Kinder gar nicht allein aufnehmen, man müsste auch deren Väter und Männer aufnehmen. Zum anderen gab es in Österreich im Jänner und Februar ohnedies 2500 Asylanträge, "tun wir also nicht so, als würde Österreich niemanden aufnehmen".
Genug aufgenommen
Kurz geht davon aus, dass sich genau wie im Jahr 2015 die Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen in einigen Wochen sehr schnell ändern wird, wenn nämlich die türkisch-griechische Grenze fällt und Flüchtlinge "mit Gewalt durchkommen". Weltweit seien 100 Millionen Menschen auf der Flucht. "Das ist keine Übertreibung, sondern das ist Realität." Österreich sei jedenfalls vorbereitet, seine Grenze zu schützen, "falls es zu einem Grenzsturm kommt".
Österreich wird Griechenland neben seinem Beitrag zum Schutz der EU-Außengrenze auch bilateral unterstützen. Laut dem Bundeskanzleramt stellt die Regierung dafür 13 Beamte der Polizeisondereinheit Cobra, eine Drohne, ein gepanzertes Fahrzeug sowie eine Million Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung.
Spenden verdoppeln
Mehrere Hilfsorganisationen wie die Caritas oder die Volkshilfe sammeln bereits intensiv Spenden für Flüchtlinge. Kurz kündigte am Sonntag an, die Regierung werde alle Spenden, die bis Ostern über die ORF-Aktion Nachbar in Not für die Flüchtlinge im syrischen Idlib gesammelt werden, verdoppeln.
Die Koalition mit den Grünen sieht Kurz trotz der Differenzen in dieser Frage nicht gefährdet. Man habe alle Beschlüsse gemeinsam gefasst. Und auch dass Vizekanzler Werner Kogler ihm angesichts seiner harten Haltung beim EU-Budget Populismus vorgeworfen hatte, will Kurz nicht überbewerten: "Der Vizekanzler ist Chef einer anderen Partei, ist nicht Mitglied meiner Partei und hat da und dort andere Positionen als ich."
Die beiden grünen Abgeordneten, die an der Demo teilgenommen hatten, waren in den sozialen Medien mit einer Welle an Hasspostings konfrontiert. FPÖ-Chef Norbert Hofer riet den beiden Abgeordneten in einer Presseaussendung, sie sollten "ab sofort ihre Wohnungstür unversperrt lassen und jeden aufnehmen, der sich am Inventar bedienen will. Schließlich sind die Grünen die einzige Partei, die eine neue Flüchtlingswelle herbeisehnt."
(Michael Völker, 8.3.2020)