Recep Tayyip Erdoğan markiert im Flüchtlingsstreit den starken Mann, der es spielend mit der EU aufnehmen kann.

Foto: EPA/STEPHANIE LECOCQ

Ursula von der Leyen musste ihm Paroli bieten.

Foto: AFP/Thys

So hatte sich die Präsidentin der EU-Kommission ihre lange angekündigte Zwischenbilanz über die ersten hundert Tage ihrer Amtszeit nicht vorgestellt: Krisen statt große Pläne. Als Ursula von der Leyen am Montag in Brüssel vor die Presse trat, stürzten weltweit grad die Börsen ab. Coronakrise, Ölpreiseinbruch.

Für ein paar Stunden später war dann der Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angekündigt. Dieser hatte sich bereit erklärt, mit den EU-Spitzen über den EU-Türkei-Pakt neu zu reden. Den hatte er de facto selber aufgekündigt, als er vor zehn Tagen Gerüchte streute, die türkisch-griechische Grenze sei für Migranten aus der Türkei offen. Tausende zogen Richtung Europa. Es kam zu Chaos im Grenzgebiet, wo auch am Montag noch viele ausharrten.

Das sei "unerträglich", kam von der Leyen rasch auf dieses Thema zu sprechen, um dann zu verdeutlichen, was sie bei dem für den Abend anberaumten Treffen, das auf Einladung von EU-Ratspräsident Charles Michel zustande kam, erwarte: Pakttreue. "Die Grenzen sind nicht offen, und sie werden nicht geöffnet", sagte die Kommissionschefin. Es gehe darum, dass die Türkei die bisherigen Vereinbarungen respektiere, dafür sorge, dass der Zustrom von Migranten an EU-Grenzen beendet werde.

Der türkische Präsident sieht das aus einer ganz anderen Perspektive. Bevor er nach seiner Ankunft in Brüssel ins EU-Viertel fuhr, machte er einen Zwischenstopp im Nato-Hauptquartier. Bei einem Gespräch mit Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte er, die Türkei erwarte "die volle Unterstützung" der Alliierten in Europa. Die Grenze der Türkei zu Syrien sei "die südöstliche Grenze zur Nato". Die Europäer könnten sich nicht den "Luxus" erlauben, die Lage in Syrien zu ignorieren.

"Der Beginn eines Prozesses"

Von der Leyen hingegen betonte, die EU habe seit 2016 umfassend Hilfe an die Türkei gezahlt, um die 3,8 Millionen syrischer Flüchtlinge im Land zu unterstützen. Sie vermied es, neue Zusagen für den Fall eines neuen Anlaufs des Abkommens zu machen. EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn hatte im STANDARD-Interview erklärt, dass 2020 Zahlungen bis zu einer halben Milliarde für Flüchtlinge möglich wären, wenn man sich einige und Erdoğan Bedingungen erfülle. So weit ist man laut von der Leyen aber noch nicht. Der Besuch sei erst "der Beginn eines Prozesses", so von der Leyen. Man müsse miteinander reden. Nach dem Treffen versicherte sie, das Abkommen zwischen der Türkei und der EU bleibe gültig. Man wolle analysieren, welche Teile nicht umgesetzt wurden und warum.

Meinungsverschiedenheiten bei der Umsetzung des Abkommens sollten der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in den nächsten Tagen gemeinsam mit einem Team von Fachleuten klären, ergänzte EU-Ratschef Charles Michel. Sowohl Michel als auch von der Leyen lobten, dass das Gespräch mit Erdogan stattgefunden habe. Von der Leyen nannte es konstruktiv. Konkrete Ergebnisse präsentierten beide aber nicht. Erdogan war bei ihrer Pressekonferenz nicht dabei.

Inakzeptable Situation auf griechischen Inseln

Mit sehr deutlichen Worten äußerte sich die Kommissionspräsidentin zur Lage der Flüchtlingswerber auf griechischen Inseln, insbesondere der Kinder und unbegleiteten Minderjährigen. Dies sei "inakzeptabel", es müsse sofort alles unternommen werden, "um den Druck von den Menschen zu nehmen". Die von der EU bereitgestellten Sofortmittel von 350 Millionen Euro vor allem zur Grenzsicherung seien nur ein erster Schritt, dem weitere folgen werden.

"Die Kinder brauchen einen sicheren Ort", sagte von der Leyen. Sie habe Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis gebeten, für diese "jetzt sofort" etwas zu tun. Sie dankte in diesem Zusammenhang vor allem jenen EU-Staaten, die ihrer Bitte von vergangener Woche, "unbegleitete Minderjährige von der Insel zu holen", positiv beantwortet haben. Bisher habe sie von fünf Ländern – Deutschland, Frankreich, Portugal, Luxemburg und Finnland – konkrete Zusagen erhalten.

Flüchtlingskinder nun Chefinsache

Sie machte deutlich, dass sie die Nothilfe für Flüchtlingskinder zur Chefinsache gemacht hat: "Wir müssen uns um sie kümmern, etwas tun, um diesen Zustand endlich zu beenden", sagte die Präsidentin, "damit sie ein neues Zuhause haben." Die Regierung in Berlin kündigte Montagfrüh an, dass in einer humanitären EU-Aktion insgesamt 1500 Minderjährige aufgenommen werden.

Wie diese Kinder unter den Staaten aufgeteilt werden, würden die Innenminister der beteiligten Staaten entscheiden. Donnerstag wird von der Leyen nach Athen reisen, um über das weitere Vorgehen gegenüber den Flüchtlingen zu beraten. Dazu gehört auch das Thema Asylrecht. "Einen Antrag auf Asyl stellen zu können ist ein Grundrecht, das auf jeden Fall respektiert werden muss", sagte sie in Anspielung auf die Erklärung von Mitsotakis, dass bis Ende März keine Anträge entgegengenommen werden würden. Die Situation an der griechisch-türkischen Grenze sein ein Dilemma. Man müsse den tausenden Menschen dort helfen und für sie eine Lösung finden. (Thomas Mayer aus Brüssel, 9.3.2020)