Dass das Medium Video im heutigen Alltag eine große Rolle spielt, ist unumstritten. Nahezu jedes aktuelle Handy kann Videos produzieren, auf Plattformen wie Tiktok oder Youtube werden sie weltweit geteilt, und die Handynutzung von Jugendlichen wird kontinuierlich debattiert. In der österreichischen Innenpolitik wurden Handyaufnahmen kürzlich in der Bezeugung von Übergriffen durch die Staatsgewalt relevant, die Veröffentlichung eines Videos läutete 2019 das Ende der ÖVP-FPÖ-Regierung ein.

Kaum erforscht ist die Frühgeschichte von Video, eine Zeit, als Video noch auf Magnetband auf Spulen aufgezeichnet wurde beziehungsweise später auf stetig kleiner werdenden Kassetten verfügbar war. Einen Grund für diese Forschungslücke stellt die Archivsituation dar. Video zu archivieren ist kostspielig und zeitaufwendig. Es bedeutet, mit einer Vielzahl von Formaten, für die keine Geräte mehr hergestellt werden, umzugehen und die Videos so zu digitalisieren, dass langfristige Speicherung und Zugang möglich sind. Eines der wenigen Medienarchive in Europa, die das technische Know-how und die entsprechenden Geräte für die Archivierung vieler verschiedener (und auch privat verwendeter) Videoformate haben, ist die Österreichische Mediathek des Technischen Museums in Wien. In der Mediathek wurde von 2014 bis 2016 ein großes Projekt zur Sammlung und Digitalisierung von Home- und Amateurvideos durchgeführt, infolge dessen ein wichtiger Bestand Wiener aktivistischer und privater Videopraxis gesichert werden konnte (siehe: Wiener Video-Rekorder).

Als die Videorekorder noch unhandlicher waren: Das Magnetbandsystem Quadruplex wurde 1956 von der Firma Ampex entwickelt.
Foto: Belgavox, CC BY-SA, http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Ein Blick auf die rund vierzig Jahre Videogeschichte vor dem Handyvideo lohnt sich. In diesem Zeitraum wurden Praktiken ausprobiert und ausverhandelt, die mit dem Gebrauch von Smartphones gleichzeitig neu und selbstverständlich erscheinen: Videos wurden kopiert und verbreitet, sie wurden als Beweismittel verwendet, Videotechnologie durchdrang den privaten Raum und verwischte die Grenzen von Öffentlichkeit und Privatheit. Videobriefe wurden versandt, um weit entfernte Verwandte und Bekannte auf dem aktuellen Stand über das Aufwachsen der Kinder zu halten, und die Kameras wurden auf die eigene Person gerichtet – viele Jahre vor der Erfindung des Selfie-Sticks.

Selbstoptimierung durch die Videokamera

Video veränderte die Perspektive auf das Selbst. Bereits Ende der 1960er-Jahre, zu einer Zeit, als Videoequipment noch eher unhandlich und wenig verbreitet war, erschienen die ersten Forschungsberichte zum Einsatz von Video in der Psychotherapie. Diese thematisieren, wie in der therapeutischen Arbeit das gemeinsame Ansehen und Besprechen der Videoaufnahme der unmittelbar vorangegangenen Sitzung neue Möglichkeiten der Selbstkonfrontation und folglich der Selbstreflexion ermöglicht. Während beim rund sechzig Jahre älteren Medium Film zwischen Aufnahme und Ansehen des bewegten Bildes eine Entwicklungszeit eingeplant und in Kauf genommen werden musste, ließen sich Videoaufnahmen unmittelbar nach der Aufnahme ansehen, gegebenenfalls löschen oder kopieren.

Auf diesen Möglichkeiten basierende Verfahren der Selbstbeobachtung wurden in Training und Coaching verstärkt ab den 1990er-Jahren angewandt. Videocoachings im Managementbereich zielten auf eine Verbesserung der eigenen Performance. Auch in Kursen für Langzeitarbeitslose und für auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppen wurde auf Selbstoptimierung gesetzt. Der Einsatz dieser Trainingsmethoden via Kamera ist letztlich ein Element einer Verschiebung von Problemlagen in (sich formierenden) neoliberalen Diskursen. Es wird nahegelegt, dass das Problem bei den Arbeitslosen selbst liege statt an zu wenigen Arbeitsplätzen oder ungleich verteilter und bewerteter Arbeit. Anstatt bei strukturellen Benachteiligungen und ungleichen Machtverhältnissen anzusetzen oder über die gesellschaftliche Verteilung und Entlohnung von Arbeit zu sprechen, wurde die Verantwortung für das Scheitern an diesen Strukturen auf die betroffenen Individuen verlagert.

Cover von Sepp Auer, Peter Hueber, Hans Kronberger: "Arbeiter machen Fernsehen". Eine Projektstudie der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen.
Foto: Video Initiative Graz, 1980

Handlichere und leistbarere Geräte begünstigten das Entstehen von Videoaktivismus ab den 1970er-Jahren. Video wurde von sozialen Bewegungen wie der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, im Umfeld der Frauenbewegung, im Aids-Aktivismus und in der Hausbesetzungsszene als wichtiges Medium erkannt. Neben der Produktion und Verbreitung von audiovisueller Information unabhängig von staatlichen und privaten Fernsehanstalten diente die Videokamera auch zur Selbstermächtigung. Sie ermöglichte die Kontrolle über die Selbstrepräsentationen von Gruppen, deren Darstellung in anderen Medien oft auf bloß stereotype Weise erfolgte.

Von der "Video Initiative Graz" wurden 1979 unter dem Titel "Arbeiter machen Fernsehen" mehrere Videoprojekte mit Arbeiterinnen und Arbeitern in Betrieben durchgeführt. Daraus ging auch der Film "Stahlsplitter", der in den Vereinigten Edelstahlwerken Mürzzuschlag gedreht wurde, hervor. Die Videoarbeit sollte, so die Begleitpublikation, eine "kritische und emanzipatorische Form der Selbstuntersuchung" sein und zur "Selbstveränderung" führen.

Home-Videos: Hallo, da bin ich!

Home-Videos als audiovisuelle Dokumentationen des eigenen Lebens können ebenso als (reflexive) Arbeit am Selbst verstanden werden. Die Kamera bezeugt soziale Kontakte, die Anwesenheit an Orten, Hochzeiten und die erhaltenen Geburtstagsgeschenke. Sie erzeugt Zugriffsmöglichkeiten auf verschiedene historische Versionen des Selbst, die Aufnahmen ermöglichen Rückschau und Selbstreflexion.

"Ich bin da!" Camcorder-Selfie, Screenshot Video.
Foto: Renée Winter

In früheren Familienfilmen oder Home-Videos war die filmende Person oft im Bild abwesend. Die Einbeziehung aller anwesenden Personen ließ sich nur durch ein Stativ lösen. Die handlicheren Camcorder der 1990er-Jahre lassen sich leicht umdrehen, das Objektiv wird auf das filmende Selbst gerichtet, das bezeugt: "Ich bin (auch) da!"

Die Funktionen der auf das Selbst gerichteten Gebrauchsweisen des Mediums – Dokumentation, Ermächtigung, Optimierung, Beobachtung – unterscheiden sich voneinander und können sich auch im Lauf der Zeit verändern. So kann ein zur Bezeugung eines Weihnachtsfestes aufgenommenes Home-Video Teil einer Selbstbeobachtung werden oder zu aktivistischen Zwecken aufgenommene Veranstaltungen dreißig Jahre später eine autobiografische Rezeption der Beteiligten anstoßen.

Deutlich wird, dass schon frühe Videopraktiken sich ausführlich mit dem Selbst beschäftigten. Auf welche Weise diese medialen Bezugnahmen auf das Selbst mit den jeweiligen politischen und ökonomischen Strukturen in Beziehung getreten sind, ist eine zentrale Fragestellung meiner Forschung. Die historische Analyse ermöglicht nicht zuletzt, auch aktuelle Wechselwirkungen zwischen Mediengebrauch und gesellschaftlichen Verhältnissen besser zu verstehen. (Renée Winter, 11.3.2020)