Mehr als 100.000 Gräber mit Grabbeigaben wurden freigelegt und vielfach dokumentiert.
Foto: János Ódor, Szekszárd

Migrationen nach Europa sind brandaktuell – und fanden schon immer statt. Besonders spektakulär war jene des Volks der Awaren, dessen Kerngruppe aus dem östlichen Zentralasien stammte. Im sechsten Jahrhundert ließen sie sich im Karpatenbecken – dem Großraum zwischen Wien und Belgrad – nieder und herrschten für mehr als 200 Jahre über große Teile Mitteleuropas.

Die Bezeichnung "Aware" bezog sich aber wohl im Laufe der Zeit auch auf eine sozial höhergestellte Schicht. Unter der Awarenherrschaft wurde das Gebiet des Karpatenbeckens erstmals eine politische Einheit.

Diese Region ist auch wissenschaftlich besonders interessant: "Hier gab es während der Zeit der Völkerwanderung in Europa die meisten belegten Migrationen und Bevölkerungsveränderungen", sagt der Historiker und Wittgenstein-Preisträger Walter Pohl.

Er leitet das Forschungsprojekt HistoGenes, das in wenigen Wochen offiziell startet: Hier wirken Geschichte, Genetik, Archäologie und Anthropologie zusammen, um mehr über die Völkerwanderungszeit in Ostmitteleuropa herauszufinden.

Es wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) über einen Synergy-Grant mit zehn Millionen Euro gefördert und bringt sowohl international als auch innerhalb von Wien diverse Fachbereiche und Institute zur Kooperation. Neben der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Uni Wien, denen Pohl angehört, ist auch das Naturhistorische Museum daran beteiligt.

400 bis 900 nach Christus

Ein weiterer Grund für den Fokus auf diese Region ist die außergewöhnliche Fülle an Begräbnisstätten aus der Zeitspanne von 400 bis 900 nach Christus, die im Projekt beleuchtet wird. "Mehr als 100.000 Gräber mit Grabbeigaben wurden bisher freigelegt und in vielen Fällen bereits dokumentiert, vor allem in Ungarn", sagt Pohl. Aus dieser Menge sollen bei dem Projekt mehr als 6000 genetische Proben entnommen, analysiert und verglichen werden.

Die Nähe zu Wien als Dreh- und Angelpunkt des Forschungsunterfangens ist ebenfalls von Vorteil. Am Projekt arbeiten zudem auch etwa Forschende der Universität Budapest, des US-amerikanischen Institute for Advanced Study in Princeton und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena.

Dort wird der Archäogenetiker Johannes Krause alte DNA (aDNA), gewonnen aus Knochen der Verstorbenen, untersuchen: "Wir benutzen die DNA-Sequenzierungstechnologie als Zeitmaschine, um Erkenntnisse über vergangene Populationen und ihre Sozialstruktur zu gewinnen."

Keine schriftlichen Quellen

Solche Analysen alter DNA wurden bisher hauptsächlich an wesentlich älteren Individuen durchgeführt, aus deren prähistorischer Lebzeit es keine schriftlichen Quellen gibt. "Über die Zeit des Römischen Reichs wissen wir aus Texten relativ genau, was die Menschen beispielsweise gegessen haben", sagt Krause.

Im aktuellen Projekt sehe dies anders aus, weil die Lebensweisen der verschiedenen nichtrömischen, "barbarischen" Völker zu jener Zeit kaum dokumentiert wurden. "Daher können wir auch mittels der Genetik viel beitragen, indem wir Verwandtschaften analysieren und herausfinden, woher die Menschen kamen." So könne man neue Beweise für bestehende Hypothesen erbringen.

Die verschiedenen Methoden liefern Ergebnisse, die sich gegenseitig festigen und womöglich auch infrage stellen können. Margit Berner, Anthropologin vom Naturhistorischen Museum, sagt: "Wir werden Knochen und Zähne betrachten und unsere Erkenntnisse mit denjenigen austauschen, die aDNA und Isotope analysieren."

Isotope – also verschiedene Atomarten – des Elements Strontium helfen dabei, herauszufinden, in welchem Landstrich eine Person geboren wurde und ob sie im Laufe ihres Lebens in eine andere Gegend umsiedelte.

Speiseplan und Krankheiten

Kohlenstoff- und Stickstoffisotope werden untersucht und können etwa Aufschluss darüber geben, wie der Speiseplan aussah. Wurde viel Fleisch gegessen? Handelt es sich bei den entsprechenden Individuen womöglich um privilegierte Mitglieder einer Gemeinschaft?

An Knochen finden sich Hinweise auf Mangelernährung oder bestimmte Infektionen. Letztere können durch die DNA-Analyse bestätigt werden, beispielsweise bei den bakteriell verursachten Erkrankungen Tuberkulose oder Lepra. Auch die Genome von Erregern sollen extrahiert und rekonstruiert werden, um mehr über die Evolution von Krankheiten zu erfahren.

Mittels Verletzungen und Belastungserscheinungen können Vermutungen über die Arbeiten angestellt werden, die die Personen verrichtet haben – und über mögliche Auseinandersetzungen untereinander.

"Wir hoffen, dass wir so zu einem lebhafteren und bunteren Bild dieser einstigen Populationen beitragen können", sagt Berner. "Awaren waren nicht ausschließlich Reiterkrieger, sondern vermutlich eine komplexe Mischung von Völkern, die mit den Herausforderungen ihrer Zeit umgehen mussten."

"Hier gab es während der Zeit der Völkerwanderungen in Europa die meisten belegten Migrationen." Walter Pohl über das Karpatenbecken
Foto: ÖAW

Im Rahmen des Projekts sollen vor allem ganze Gräberfelder anstelle von einzelnen, besonders interessanten Gräbern untersucht werden, um zusammenhängende Gemeinschaften besser zu verstehen. Dazu gehört auch das Erstellen von Stammbäumen.

Eine Vorstudie zu einem ungarischen Friedhof aus dem sechsten Jahrhundert liefert Hinweise darauf, dass miteinander verwandte Personen dieses Gräberfelds tendenziell mehr Grabbeigaben erhielten. Derartige Ergebnisse können also soziale Ungleichheiten in einer Gemeinschaft besser charakterisieren.

Diese interdisziplinäre Herangehensweise soll auch als Vorbild für zukünftige Studien dienen, die sich an der Grenze dieser Forschungsbereiche befinden. Pohl und seine Kollegen verfolgen seit langem die Entwicklung der historisch arbeitenden Genetik: "Wir haben die neuen Möglichkeiten gesehen, waren aber auch beunruhigt. Denn gleichzeitig kamen neue Tendenzen eines biologischen Determinismus auf – also der Ansicht, dass Völker durch ihre gemeinsame biologische Herkunft bestimmt sind. Dies wurde recht unkritisch vorausgesetzt."

Zugehörigkeit zu einem Volk

Dabei ist die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Kultur wesentlich komplexer und biologisch nicht homogen. Dies trifft insbesondere auch auf die Völkerwanderungszeit zu. Daher sei der Dialog mit Historikern wichtig, vor allem in der Vermittlung von Ergebnissen. "Inzwischen hat sich die Lage in der Forschung verbessert, es gibt auch kritische Genetiker", sagt Pohl.

Vom neuen Projekt erwartet er, dass sich mehrere unterschiedliche Prozesse herauskristallisieren: Teilweise wird die Bevölkerung wenig beeinflusst gewesen sein von Migrationsgruppen, die sich ansiedelten, an die Macht kamen und später wieder verschwanden.

Andernorts kam es eher zu Populationsveränderungen, indem neue Gruppen Ortsansässige stark beeinflussten oder gar vertrieben. "Unser Ziel ist nicht, ein einzelnes Modell zu erstellen, wie historische Wanderungen funktionieren. Stattdessen wollen wir etwas über die Vielfalt und Formen erfahren, in denen diese ablaufen können." (Julia Sica, 16.3.2020)