Die neue russische Verfassung ist ein großer Eintopf. Für jeden ist etwas dabei: für die einen der Status einer Siegermacht im Zweiten Weltkrieg, für die anderen der Schutz der Ehe, die in Russland nur "zwischen Mann und Frau" bestehen kann. Für die Armen sind es ein paar recht undefinierbare Brocken an Sozialhilfe, für die Patrioten das Verbot, auch nur den kleinsten Krümel Erde abzutreten. Sich diesbezüglich beim Nachbarn zu bedienen ist übrigens verfassungsrechtlich kein Problem. Selbst scheinbar Unvereinbares wird vermischt: Da bekennt sich Russland einerseits zur Rechtsnachfolge der atheistischen Sowjetunion, andererseits rührten die vielen Verfassungsköche "im Angedenken an unsere Vorfahren" den Glauben an Gott in die Rezeptur.

Wladimir Putin befindet sich in seinem zwanzigsten Herrschaftsjahr.
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Wobei das Gottesbekenntnis, wie sich nun herausstellt, durchaus seine Berechtigung hat. Denn zieht die Bibel mit ihrem Wunder der Unbefleckten Empfängnis schon 2000 Jahre die Gläubigen in ihren Bann, so hat sich Russlands Staatschef Wladimir Putin nun durch das Wunder der "unbefleckten Präsidentschaft" zumindest noch für zwölf Jahre die Macht gesichert.

Eigentlich sollte man annehmen, dass ein Präsident, der bereits in seiner vierten Amtszeit und in seinem zwanzigsten Herrschaftsjahr ist und sich zuletzt immer und immer wieder dafür aussprach, die Amtszeiten des Präsidenten auf maximal zwei Perioden zu begrenzen, seinen Machthunger inzwischen gestillt hat. Dass er keine Ambitionen mehr hegt, noch einmal anzutreten. Aber auf vielfachen Wunsch der Werktätigen bleibt Putin nun doch – natürlich nur, wenn die (von Putin ernannten) Verfassungsrichter auch zustimmen.

Möglich macht dies ein einfacher Trick: Putin wird wieder zur politischen Jungfrau, seine bisherigen Amtszeiten zählen einfach nicht. Mit keuscher Scham hat das Manöver freilich wenig gemein. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine Vergewaltigung der bisher gültigen Verfassung. Wie unverfroren der Kreml dabei vorgeht, ist überraschend.

Doch neu ist die Methode keineswegs: Den gleichen Kniff wendete schon der seit 1994 in Weißrussland herrschende Alexander Lukaschenko an, um lästige Begrenzungen in der Verfassung auszuhebeln und seine Amtszeit immer wieder zu verlängern. Lukaschenko gilt im Westen seit längerem als "letzter Diktator Europas". Nun hat er im Osten einen würdigen Herausforderer gefunden. (André Ballin, 11.3.2020)