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Foto: AP / Michael Spingler

Es ist noch nicht lange her, da kämpfte Marc de Fleurian an der Front. Für seinen persönlichen Einsatz gegen Rebellen in der Zentralafrikanischen Republik während der französischen Truppenoperation Sangaris erhielt der Offizier der Fremdenlegion gar einen dicken Orden.

Eine Kampfsau? "Ach wo", lacht der 31-jährige Bretone. "Mein Einsatz galt dem Vaterland, das ist alles." Lieber spricht er über seine neue, ungleich schwierigere Mission: Er soll bei den Kommunalwahlen am Sonntag das Rathaus von Calais für den rechtsextremen Rassemblement National (RN) einnehmen. Gehalten wird es seit 2008 von der konservativen Bürgermeisterin Natascha Bouchart, die auch auf die Unterstützung der Mittepartei La République en Marche (LRM) von Emmanuel Macron zählen kann.

De Fleurian spricht auch nicht gerne über den Umstand, dass er ein sogenannter "parachuté" ist, also mit dem "politischen Fallschirm" am Ärmelkanal landete. In der 74.000-Einwohner-Stadt Calais hat er seinen Wohnsitz nämlich erst seit Mitte 2019. Der Fährhafen nach England ist laut einer Wählerstudie eine von 137 größeren Städten, die Mitte März den Rechten in die Hand fallen könnten. Bei den Europawahlen von 2019 erzielte die Partei von Marine Le Pen hier über 41 Prozent der Stimmen, während Macrons LRM mit 12,4 Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz landete.

"Präsident der Reichen"

De Fleurian hält an diesem Morgen Lagebesprechung in seinem Hauptquartier, einem Loft, in dem er selbst auch wohnt. Auf dem Herd wartet gekochter Reis vom Vortag, an der Wand hängen Le-Pen-Porträts. An einem großen Tisch sitzt Marie-Caroline Le Pen, die ältere Schwester von Parteichefin Marine. Auch sie ist erst im vergangenen Jahr nach Calais gezogen, also ortsfremd. Auch eine Art "Fremdenlegionärin"? Leicht verärgert erwidert die Pariserin mit den kurzen blonden Haaren: "Ich bin vor allem Französin. Ich fühle mich in meinem Land überall zu Hause."

An den Wänden hängt zudem ein Riesenplakat mit der Inschrift "Bouchart = Macron". Dieser Vergleich zeigt auch, wie unpopulär der französische Präsident in diesen ärmeren, peripher gelegenen Städten wie Calais ist. 27 Prozent Arbeitslose, 30 Prozent unter der Armutsschwelle: "Diese Leute stimmen nicht für Macron, den ‚Präsidenten der Reichen‘, sie stimmen für uns, für Le Pen", sagt de Fleurian. "Da wissen sie, was sie haben."

Oder auch nicht: Laut einer Umfrage kennen 80 Prozent der RN-Wähler das Parteiprogramm gar nicht. Egal, sie wissen eines: "Schuld ist die Immigration", wie de Fleurian deklamiert, als wollte er sein Programm resümieren. Dasselbe sagt er eine halbe Stunde später zu einem Anwohner im Quartier Gravelines hinter den Sanddünen. Hier campieren die Migranten, auf eine Gelegenheit wartend, nachts mit einem Boot nach England überzusetzen. Der Hafen und der TGV-Bahnhof vor dem Eisenbahntunnel sind heute hermetisch gesichert. De Fleurian beginnt: "Sie wissen, dass die Bürgermeisterin den Lokalbus gratis gemacht hat. Seither benützen ihn nur noch die Migranten; die Senioren haben Angst."

Das Versprechen: Ein Metallzaun

Der Anwohner, ein arbeitsloser Bauarbeiter, findet das nicht gut. Er beklagt sich, dass die Migranten im lokalen Fitnessklub gratis Zutritt erhielten – "während die Einwohner von Calais kein Geld dafür haben", beendet de Fleurian den Satz. Sein Gegenüber nickt und verspricht, RN zu wählen.

Dabei hat Bürgermeisterin Bouchart eben erst einen Metallzaun entlang der Route des Gravelines ziehen lassen, um die Anwohner zu schützen. Nun sichert er die kleine Wohnsiedlung. "Ein Zaun genügt nicht", findet de Fleurian: "Wir wollen hier keine Immigranten. Ihre Welt ist nicht die unsere. Wenn man einem die linke Hand gibt, die laut dem Islam unrein ist, erhält man von der Rechten einen Messerstich."

Die dem RN nahestehende Organisation Riposte Laïque hat der bürgerlichen Bürgermeisterin kürzlich vorgehalten, sie fördere in Calais "Musikfestivals à la Mamadou" und Stadtkunst "zur Ehre der ‚Négritude‘". Richtig ist: Bouchart hat eine fahrbare Attraktion in Form eines zehn Meter hohen Metalldrachens für 27 Millionen Euro bauen lassen, der etwas Farbe in die triste Strandpromenade von Calais bringen soll. Doch viele schütteln darüber den Kopf.

Kaum Chance für die Linke

Bei einem Wahlmeeting im Bowling-Zentrum verteidigt die Bürgermeisterin diese Art von Tourismusförderung. Vor allem aber kündigt die Mitte-rechts-Politikerin an, sie wolle 14 neue Stadtpolizisten anheuern und alle Viertel mit Videokameras versehen. Natürlich wegen der Migranten. Bouchart sagt, sie verhalte sich diesen gegenüber "entschlossen, aber human". Das sei insgesamt ausgewogener und auch realistischer als der Slogan "null Immigration" des "parachuté" – Bouchart nennt ihren Widersacher de Fleurian aus Prinzip nicht beim Namen.

Die Linkskandidatin Virginie Quénez wiederum wirft beiden Konkurrenten zu ihrer Rechten vor, deren Migrationspolitik beschränke sich auf die Aufstockung der Polizeikräfte. Die energische Anwältin will lieber einen lokalen "Migrantenrat" aus Behörden, Vereinen und Anwohnern schaffen. Dieser soll dafür sorgen, dass die Zugereisten zehn Tage lang beherbergt würden. Dann müssten sie sich entscheiden, ob sie in Frankreich Asyl beantragen wollten. Und wenn nicht? "Dann wird die Polizei eingeschaltet."

Mit diesem pragmatischen Ansatz ist Quénez gelungen, was im fernen Paris unmöglich scheint: Sie hat die gesamte Linke hinter sich geschart – Sozialisten, Grüne, Kommunisten und "Unbeugsame". Dennoch sind ihre Wahlchancen beschränkt. Zu schwer lastet das Thema Migration auf der verarmten Hafenstadt. (Stefan Brändle aus Calais, 12.3.2020)