Niemand würde so reden, der tatsächlich etwas zu sagen hat. Ein Ausflug ins Juristendeutsch mit Einblicken in die Bürokratenhölle
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Michael Rami
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Man sagt, dass Jesus sagte: "Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel."1 Ich argwöhne, dass manche Juristen den Teil "nein, nein" ein wenig zu wörtlich genommen haben, denn nur so ist erklärbar, warum blutleere Verneinungen in der Jurisprudenz so beliebt sind.
Was würde Justitia sagen?
Deutsch versus Juristendeutsch
mit – nicht ohne2
eindeutig – unzweideutig3
mehrdeutig – nicht eindeutig4; noch besser: nicht unzweideutig5
falsch – unrichtig6
richtig – nicht unrichtig7
verständlich – un-missverständlich8
möglich – nicht ausgeschlossen9
erkennen – nicht verkennen10
berechtigt – nicht unberechtigt11
gewöhnlich – alles andere als ungewöhnlich12
typisch – keineswegs atypisch13
wichtig – nicht irrelevant14
behalten – nicht preisgeben15
enthalten – nicht entbehren16
berücksichtigen – nicht ignorieren17
sehen – nicht übersehen18
tun – nicht unterlassen19
widersprechen – nicht widerspruchslos hinnehmen20
Krieg oder Kein Frieden mehr?
Blutleer deshalb, weil der Mensch immer wissen will, wo der Hase läuft, und nicht, wo er nicht läuft: "Consciously or unconsciously, the reader is dissatisfied with being told only what is not; he wishes to be told what is."21 Wenn die Heere aufeinander zumarschieren, wird jede Zeitung, die ihre Leser behalten will, schreiben, was Sache ist, also "Krieg!", und nicht "Kein Frieden mehr!".
Verneinungen geben der lebendigen Sprache den Todesstoß, aber doppelte Negationen sind die Nägel in ihrem Sarg. Es kann nur spekuliert werden, warum Wesen aus Fleisch und Blut einen so mausetoten Stil verwenden; vermutlich liegt es daran, dass die doppelte Verneinung zwar sprachlogisch nicht schwächer ist als die schlichte Bejahung, aber doch schwächer klingt und somit die ideale Sprachkonstruktion für Zauderer aller Art ist.22
Meisterstück der Bürokratenhölle
Jedenfalls würde niemand so reden, der tatsächlich etwas zu sagen hat: "Ja, du bist schön!"23, das ist ein ordentliches Kompliment, und nicht "Ja, du bist nicht unschön". Vollends unter die Erde bringt man die lebendige Sprache mit drei- und mehrfachen Verneinungen24: Der Jurist, dem die Wendung "Muss einigermaßen dem eindeutig ausgedrückten Willen entsprechen" noch zu leicht lesbar dünkt, schreibt einfach "Darf nicht völlig dem unzweideutig ausgedrückten Willen zuwiderlaufen"25, und fertig ist das grausame Scheusal. Das Meisterstück aus der Bürokratenhölle regelt zwar die Scherzerklärung, ist aber selbst leider keine: "Eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abgegeben wird, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt werden, ist nichtig."26 (Michael Rami, 22.7.2020)
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