Martin Karplus ist in den vergangenen Jahren nicht nur als Nobelpreisträger viel unterwegs gewesen. Er zeigte seine Fotografien in internationalen Ausstellungen, 2015 auch in Wien.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Als Kind musste Martin Karplus vor den Nazis aus seiner Geburtsstadt Wien fliehen, weil er Jude ist. In den vergangenen Jahren konnte er sich der Einladungen nach Österreich kaum erwehren – und das hat vor allem mit der prestigeträchtigen Auszeichnung zu tun, die Karplus 2013 erhielt: Der Forscher wurde damals mit dem Chemienobelpreis geehrt. Der bis dahin in seinem Geburtsland weitgehend unbekannte Forscher fühlte sich vereinnahmt, bezeichnete die österreichischen Bemühungen später aber auch als "gut für die Versöhnung". Am Sonntag feiert der Wissenschafter seinen 90. Geburtstag.

Das plötzliche Interesse Österreichs an seiner Person empfand Karplus als ärgerlich. Keine österreichische Universität oder sonstige Institution hatte sich vor dem Nobelpreis um ihn bemüht, obwohl er international längst renommiert gewesen war. Dass er dann, nach dem Preis 2013, als Ehrenmitglied in die Akademie der Wissenschaften (ÖAW) aufgenommen wurde, ein Ehrendoktorat der Uni Wien erhielt und mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet wurde, fand er "sehr nett, vielleicht ein wenig spät. Es wäre besser gewesen, all das wäre vor meinem Nobelpreis passiert."

Studium bei Linus Pauling

Martin Karplus wurde am 15. März 1930 in eine jüdische Familie in Wien geboren. Die Wissenschaft wurde ihm und seinem um drei Jahre älteren Bruder Robert quasi in die Wiege gelegt: Beide Großväter waren bekannte Mediziner. Samuel Goldstern, der Vater der Mutter, betrieb die auf rheumatische Erkrankungen spezialisierte Fangoheilanstalt in der Lazarettgasse. Der Großvater väterlicherseits war der angesehene Neurophysiologe und Psychiater Johann Karplus, der an der Entdeckung der Funktion des Hypothalamus beteiligt war. Auch Martin und sein Bruder sollten Medizin studieren, so der Wunsch der Familie. Doch dazu kam es nicht.

Nach dem "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 wurde der Vater verhaftet, die Mutter floh mit den beiden Söhnen über die Schweiz nach Frankreich. Einige Monate später gelang es der Familie, in die USA zu emigrieren. Dort änderten sich die Interessen: Nach der Schule entschied sich Robert für ein Physikstudium, Martin für die Chemie. 1947 nahm er das Studium an der Harvard University auf, wechselte später an das California Institute of Technology in Pasadena und promovierte 1953 beim späteren zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling.

Chemie im Cyberspace

Nach einem längeren Forschungsaufenthalt an der Oxford University arbeitete er unter anderem an der University of Illinois und an der Columbia University. Mitte der 1960er-Jahre wurde Karplus als Professor nach Harvard berufen, wo er bis heute wissenschaftlich tätig ist.

Karplus wurde für seine bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der physikalischen Chemie bekannt. 2013 wurde er gemeinsam mit Michael Levitt (Stanford University) und Arieh Warshel (University of Southern California) "für die Entwicklung von Multiskalenmodellen für komplexe chemische Systeme" mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet. Ihre Beiträge hätten die Entwicklung universeller Computermodelle ermöglicht, die chemische Prozesse realitätsnah simulieren können, hieß es damals vom Nobelkomitee. Mit ihrer Arbeit hätten sie "das Chemie-Experiment in den Cyberspace gebracht".

Kunst und Küche

Karplus findet aber, dass eigentlich ein anderer Teil seiner Arbeit nobelpreiswürdiger gewesen wäre: Die von ihm und seinen Kollegen entwickelte Simulation molekularer Dynamik sei für Biologie und Chemie entscheidender gewesen. Die Beweggründe des Nobelkomitees kenne er nicht, sagte Karplus vor einigen Jahren zum STANDARD. "Da müssten Sie in 50 Jahren in Stockholm in den Büchern nachlesen, dann werden die geöffnet, und vielleicht wird es Ihnen dann klar."

Derzeit arbeitet Karplus an der Fertigstellung seiner Autobiografie, die noch in diesem Jahr erscheinen und auch Einblicke in seine Leidenschaften abseits der Chemie geben soll: Das Kochen und die Fotografie begleiten Karplus schon seit vielen Jahren. Seine Bilder waren bisher unter anderem in Paris, Oxford und New York zu sehen.

2015 gab es auch eine Fotoausstellung an der Uni Wien. Lange Zeit, sagte Karplus damals, habe er gar nicht über Österreich nachgedacht. Durch seine längeren Aufenthalte habe sich sein Bild aber geändert. "Natürlich kann man es nicht wiedergutmachen, was in der Vergangenheit passiert ist. Man kann sich aber daran erinnern und darauf achten, dass es nicht noch einmal passiert." (David Rennert, 15.3.2020)