Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in das World Trade Center in New York krachten, da dauerte es danach wenige Tage, bis sich die Welt wieder halbwegs sortiert hatte: Menschen saßen nur vorübergehend auf Flughäfen fest, der ausgesetzte Börsenhandel ging auch bald wieder weiter, die Urheber der Anschläge wurden in Afghanistan ausgemacht, damit war ein Bombenziel gefunden. Auf vielen anderen Ebenen allerdings sind die Folgen von 9/11 bis heute nicht überwunden: Die USA haben zum Beispiel ihr Grenzregime drastisch verschärft, und immer wieder kommt es zu Problemen bei der Einreise in das Land, das sich lange Zeit als Schutzmacht der "freien Welt" verstanden hat.

Viele Kulturstätten haben aufgrund des Regierungserlasses ihre Pforten geschlossen.
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Das waren jedoch vergleichsweise Kleinigkeiten im Vergleich zu dem einmonatigen Stopp für Einreisen aus Europa, den Präsident Trump in der Nacht auf Donnerstag verhängt hat. Diese Maßnahme führt besonders deutlich vor Augen, was mit der gegenwärtigen Pandemie auf dem Spiel steht. Die Absage von Sportveranstaltungen und Filmfestivals, die Aufforderungen, nach Möglichkeit zu Hause zu bleiben, die Hamsterkäufe in Deutschland und Österreich und die Großquarantänen in China und in Italien konnte man als eine allmähliche Reaktion auf eine Gefahr begreifen, die nicht, wie bei einem terroristischen Anschlag, durch Plötzlichkeit charakterisiert ist, sondern durch ein Gegenteil davon: durch eine sukzessive Entleerung der Zukunft. Es hat nichts Apokalyptisches, sondern etwas Unwirkliches, wie sich in diesen Tagen die Fragezeichen in die Terminkalender drängen.

Weg von "normal"

Die Welt (und in diesem Fall tut es tatsächlich kein kleineres Wort) macht mit dem Coronavirus eine Erfahrung, die man auch deswegen vor dem Hintergrund von 9/11 sehen sollte, weil es um eine vergleichbare Frage geht: Reichen die bisherigen Verfahrensweisen, oder läuft es irgendwann auf einen Ausnahmezustand hinaus? In einem Ausnahmezustand kippt das Verhältnis zwischen den staatsbürgerlichen Freiheiten und der Exekutive. Konkret ist das derzeit schon der Fall, allerdings überall in Rahmen der jeweiligen Verfassung.

Aus einer Quarantäne darf niemand einfach so hinausspazieren, auch nicht mit dem Hinweis, dass es einem persönlich egal wäre, sich das Virus einzufangen. Die Politik bemüht sich darum, zugleich Normalität und entschiedenes Handeln zu suggerieren. Donald Trump kennt ohnehin nur die Normalität einer beständigen Suggestion entschiedenen Handelns.

Die Verlaufskurven des Coronavirus werden also nicht nur die Verbreitung des Erregers und die unterschiedlichen Sterblichkeitsraten von Iran bis Taiwan dokumentieren, sondern sie werden auch so etwas wie einen demokratiepolitischen Index ergeben. So war das schon mit den anderen beiden Katastrophen seit der Jahrtausendwende: mit 9/11 und mit der Finanzkrise von 2008. Die Forcierung von "executive power" hat die beiden Präsidentschaften von George W. Bush begleitet, und bis heute haben die USA ihre Rolle als demokratisches Aushängeschild nicht mehr wiedererlangt. Und auch die europäischen Demokratien leiden nach wie vor unter den Legitimitätsproblemen, die sie sich nach der Finanzkrise mit der "harten" Europolitik unter der Führung Deutschlands eingehandelt haben.

Die aktuelle Gesundheitskrise deutet aber vor allem auf die eine Katastrophe hin, die alle globalen Systemlogiken am stärksten herausfordert: auf die Klimakrise. Sie verläuft schleichend, und es ist bisher nicht einmal klar, ob man von einer Krise oder schon von einer Katastrophe sprechen soll. Auch beim Coronavirus verändert sich die Perspektive ständig: Man sieht es anders, wenn man im Freundeskreis jemand mit geschwächtem Immunsystem hat (zum Beispiel nach einer Organtransplantation) oder wenn Großeltern plötzlich ihre Enkelkinder nicht mehr treffen sollen; man mag derzeit noch auf einen glimpflichen Verlauf mit Frühlingsbeginn hoffen, kann aber auch den einen oder anderen Gedanken nicht von der Hand weisen, dass das Leben vielleicht lange nicht mehr "normal" werden könnte.

Patient und Überträger zugleich

Bei einem terroristischen Anschlag oder bei einer Finanzkrise lassen sich die Ursachen relativ leicht festmachen: Al-Kaida oder ein entfesselter Bankensektor, das ist man auf jeden Fall in der Regel nicht selbst, das ist etwas Äußerliches, das bekämpft oder eingehegt werden muss. Mit dem Begriff der Pandemie hat die WHO hingegen deutlich gemacht, dass sich vom Coronavirus niemand ausnehmen kann, nicht die Gesunden, nicht die jungen Menschen, die von einem problemlosen Verlauf ausgehen können, nicht die Sportler und Schauspieler, die für eine Aufrechterhaltung des Spektakels gebraucht werden, und natürlich auch nicht die Politiker, die für eine funktionierende Demokratie ja zusammenkommen müssen, auch wenn sich natürlich ein Parlament auch mit einer anderen als einer physischen Versammlung abhalten lässt.

Das Virus macht uns alle zugleich zu möglichen Patienten und Überträgern. Das ist die ereignislogische Parallele zur Klimakrise. Wenn man sich die letzten drei Monate vergegenwärtigt, in denen sich Covid-19 aus der chinesischen Provinz über die ganze Welt verbreitete, dann kann man eine Abfolge verschiedener Krisen und Krisenmodi ausnehmen, die im Grunde ineinander übergehen. 2019 stand fast vollständig im Zeichen der Fragen, die vor allem von den jungen Klimaaktivisten gestellt wurden.

Die Freiheit, mit dem Flugzeug zu reisen, wurde zu dem prominentesten Beispiel eines Grenzfalls der Individualität, bei dem längst nicht mehr alle davon ausgehen, dass es in jedem Fall unter den Bedingungen einer freien Marktwirtschaft mit entsprechendem Angebot zulässig ist, so zu reisen. Nach wie vor gehen aber wohl die meisten Menschen davon aus, dass der Klimawandel auf eine Weise bekämpft werden sollte, die an der eigenen Lebensweise im Wesentlichen nichts ändert.

Für die meisten Menschen in westlichen Ländern wie Österreich bedeutet dies: eine hochtechnologisierte, konsumintensive, bewegungsfreizügige (touristische) Lebensform. Eine Lebensform auf Grundlage einer Globalisierung, die Diktaturen, Kleptokratien, Steuerparadiese und gescheiterte Staaten mit "regelbasierten" Demokratien in wirtschaftlichen Austausch und gleichzeitige Systemkonkurrenz treten lässt.

Freiheiten und Erfordernisse

Als im neuen Jahr dann in Griechenland das Recht auf Asylantragstellung ausgesetzt wurde, wurde deutlich, dass die Regelgrundlagen der freiheitlichen Ordnung in Europa einen Belastungspunkt erreicht haben, an dem auch noch so viel zivilgesellschaftliches Engagement nicht mehr hinreichen wird, um diese Probleme zu bewältigen. Und dann wurden in Italien die Leute krank, und seither sind die Flugzeuge so leer wie inzwischen auch die Stadien und die Opernhäuser. Auf die CO2-Bilanz werden sich diese Wochen sehr positiv auswirken, aber so wollten das wahrscheinlich die wenigsten haben.

In allen drei Problemfeldern geht es um das Verhältnis zwischen individuellen Freiheiten und politischen Erfordernissen. Beim Coronavirus hoffen wohl alle auf eine konventionelle Lösung: Die Wissenschaft wird irgendetwas finden, und danach wird alles wieder normal werden. Bei den Menschen in Not an den Grenzen Europas sind am ehesten Aspekte eines Ausnahmezustands zu erkennen: Sie treffen auf suspendierte Ordnungen oder reines Chaos, und für diesen Teil der Probleme gibt es auch keine technologischen Lösungen. Die Klimakrise schließlich wird absehbarerweise irgendwann alle diese anderen Probleme in sich aufnehmen, und dann könnte es durchaus zu einer Konstellation kommen, die sich in der Gegenwart schon abzeichnet: dass nämlich technologische Wunderlösungen ihre eigenen Dynamiken der Erschwerung von Politik mit sich bringen. Das kann man zumindest dem Internet als Ganzem derzeit durchaus so unterstellen.

In religiösen Modellen des Geschichtsverlaufs ging es immer auch darum, die Zeichen der Zeit darauf zu befragen, wann es endlich in die entscheidende Phase gehen würde. Das waren allerdings noch Vorstellungen, die von einer Eschatologie ausgingen, also davon, dass die Geschichte einmal ein Ende finden würde – übrigens mit einem großen Urteilsspruch. Man könnte beinahe meinen, dass das moderne Konzept einer offenen Zukunft derzeit auch in so eine entscheidende Phase getreten ist. Beten hilft allerdings nichts. (Bert Rebhandl, 14.3.2020)