Die Schriftsteller, die als herausragend in der Welt angesehen werden, kommen fast alle aus Europa oder Amerika", drückte die 2014 verstorbene südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer 1998 im Gespräch ihr Befremden darüber aus, wie eurozentristisch die kulturelle Wahrnehmung ausgerichtet sei. Liest man das neue Buch des Literaturwissenschafters Peter-André Alt, scheint sich an diesem Befund nichts geändert zu haben. Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten lautet sein Untertitel, und im Anfangskapitel verrät Alt, was er unter Weltliteratur versteht. So sei für seine Auswahl der 249 Beispielsätze der Kanon der europäischen Literatur leitend gewesen. "Im Vordergrund standen deutschsprachige Texte, hinzu kamen – jeweils in Übersetzungen – französische, englische, spanische, italienische und russische Werke, ergänzt um solche aus Nord- und Lateinamerika." Nationalliterarische Eigentümlichkeiten würden für sein Thema keine Rolle spielen.

Manche ersten Sätze der Weltliteratur sind so berühmt geworden, dass man sie kennt, auch wenn man das Werk nie gelesen hat. Aber was bedeutet Weltliteratur?
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Nicht nur die Anwendung des ideologischen Konstrukts Nation auf Literatur irritiert, sondern vor allem die Begründung für diese willkürliche Auswahl. Literatur arbeitet mit Sprache, kulturellen Traditionen und Lebenswirklichkeiten. Sie spielt sich, wie Alt selbst betont, in "Echoräumen" ab, erzeugt Resonanzen und Nachahmungen. Und es spielt durchaus eine Rolle, ob dieser Echoraum auf die westliche Kultur verengt ist oder sich der Welt öffnet. "Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuß des Ngong-Gebirges", beginnt Tania Blixen ihren Roman Jenseits von Afrika mit einem Erinnerungsbild. Der Satz habe das Zeug zu einem Leitmotiv, schreibt Alt.

Grundmuster

Ebenfalls ein Erinnerungsbild stellt die aus einer ägyptischen Beduinenfamilie stammende Schriftstellerin Miral al-Tahawi an den Anfang ihres Romans Die blaue Aubergine: "Meine Mutter wollte aus mir eine Prinzessin machen." Und es spielt eine Rolle, ob ein riesiger, literarisch vielfältiger Kontinent wie Afrika nur mit Blixens Roman vertreten ist, zu dem Alt selbst anmerkt, dass er "in europäischen Afrikaklischees und kolonialer Selbstherrlichkeit" ertrinkt, oder ob ein Schriftsteller aus einem afrikanischen Land selbst zu Wort kommt.

Alt erläutert die Schwierigkeit, mit dem Erzählen zu beginnen. Aufgabe des ersten Satzes sei es, den Leser zu gewinnen und zu verstricken. "Ein literarisches Werk existiert materiell auch ohne die Lektüre, aber es wird wirksam bloß im Akt des Lesens", formuliert er seine These. In 14 Kapiteln arbeitet er Grundmuster des ersten Satzes heraus und schlägt jeweils einen literaturgeschichtlichen Bogen, etwa vom Konzept fremdgeleiteter Eingebung zum souveränen Erzähler, vom vorgeblichen Herausgeber zur dichterischen Freiheit und schließlich zum freien Geständnis oder vom einfachen Anfangen zu Reflexionen auf das Anfangen. Und es spielt eine Rolle, ob man als Beispiel für Ereignisse in ersten Sätzen, "die uns etwas Unerhörtes mitteilen", auch einen Satz zitiert wie jenen, mit dem der chinesische Literaturnobelpreisträger Mo Yan sein historisches Epos DieSandelholzstrafe beginnt: "An jenem Morgen hätte mein Schwiegervater Zhao Jia nicht im Traum daran gedacht, dass er innerhalb von sieben Tagen durch meine Hand sterben würde – ein Tod, elender als der eines alten Hundes, der seinem Herrn immer treu diente."

Peter-André Alt, "Jemand musste Josef K. verleumdet haben. Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten". € 27,80 / 262 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, 2020
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Sinnlose Verengung eines Begriffs

Es spielt eine Rolle, ob man allein Kafka zitiert, dessen erster Satz aus dem Roman Der Process Alts Buch den Titel gibt, oder auch jenen persischen Schriftsteller, der Kafka bereits entdeckt und übersetzt hatte, als dieser in Europa erst bekannt wurde und der selbst als "Kafka Irans" galt: Sadeq Hedayat. Sein Roman Die blinde Eule, der erstmals 1936 in Bombay als hektografierte Handschrift in einer Auflage von 50 Exemplaren erschien, beginnt mit dem Satz: "Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra, langsam, in der Einsamkeit an der Seele zehren." Es spielt eine Rolle, ob man wie Alt allein an Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko von 1932 als unbekannt gebliebenes Meisterwerk neusachlichen Erzählens erinnert oder ob man auch einen Roman wie Samskara des im selben Jahr geborenen und 2014 verstorbenen indischen Schriftstellers Udupi Rajagopalacharya Ananthamurthy ins Bewusstsein holt.

Immer spielt es eine Rolle, ob man sich offen zeigt gegenüber Unbekanntem, Fremdem und Andersartigem, egal um welches Thema es geht. Alts sinnlose Verengung des Begriffs Weltliteratur konterkariert die Bemühungen all der Verlage, darunter seines eigenen, die in den vergangenen Jahrzehnten Anstrengungen unternahmen, um Übersetzungen von Werken der Weltliteratur vorzulegen und Leser dafür zu begeistern. Goethe brachte den Begriff Weltliteratur in Umlauf. Er und die deutschen Romantiker, die bei Alt ausführlich zu Wort kommen, öffneten sich den Literaturen der Welt und ließen sich von ihnen inspirieren.

Goethe entdeckte die Schönheit der chinesischen Lyrik und befasste sich ausgiebig mit der chinesischen Sprache und Schrift. Er begeisterte sich für die indische Literatur und widmete sich mit Hingabe der arabischen und persischen Lyrik. Aus 17 Sprachen übersetzte und bearbeitete er Texte. Sein Freund Johann Gottfried Herder hatte ihn gelehrt, den Stimmen sämtlicher Völker zu lauschen. Vielleicht könnte auch Alt bei der zweiten Auflage seines Buches diese Lehre annehmen. (Ruth Renée Reif, ALBUM, 15.3.2020)