Keine Büchersaison ohne Neuübersetzungen von Klassikern. Immer wieder werden sie von renommierten Verlagen auf den Markt gebracht. Und fast immer heißt es dann vonseiten der Kritik, sie seien "lange erwartet" worden. Oder sie seien "längst überfällig" gewesen. Im Gegenzug werden die jeweiligen Vorgängerübertragungen gern als "überholt" oder "antiquiert" abgekanzelt.

Ist auf dem Gebiet der Übersetzung also das Neue automatisch auch das Bessere? Plausibel wäre es: Schließlich ändert sich nicht nur die Sprache fortwährend, es ändern sich auch Lesekonventionen. Und man muss ja nicht gleich so weit gehen wie Wolfgang Schlüter, der vor drei Jahren Emily Brontës Sturmhöhe auf radikale Weise neuübersetzte. Schlüter ließ nämlich die Romanfiguren wie Aggro-Rapper aus Neukölln fluchen, von "Kotzbrocken" bis "Vollkoffer". So wollte er den schockierenden Eindruck der verbalen Grobheiten dieses Romans von 1847 für den heutigen Leser nachbilden.

Beinahe Mystisch

Die Literaturzeitschrift Die Horen hat eine ganze Ausgabe dem Thema "Übersetzungen im Wandel der Zeiten" gewidmet. Unter den anregenden Beiträgen finden sich Werkstattberichte ebenso wie Interviews mit Übersetzern oder Rückblicke von Verlegern auf Übersetzungsprojekte. Die Spannweite der Zugänge ist groß: Manchem Beiträger erscheint das Übersetzen wie schon Walter Benjamin als beinah mystische Tätigkeit, um sich mit der – Zitat – "Fremdheit einer Sprache auseinanderzusetzen". Selbstbewusst stellt dagegen die Maxim-Gorki-Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt fest, dass sie jeder ihrer Arbeiten auch ihre eigene Stimme, also die der Übersetzerin, mitgeben will.

2015 übersetzte Peter Sloterdijk das Buch Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupery.
Foto: Imago

Was den Wert der Neuheit angeht: Ihm begegnet man bei der Lektüre des Bandes immer wieder. So glaubt zum Beispiel Reinhard Kaiser, eine "Dunstschicht" zu entdecken, die sich nach 350 Jahren über Grimmelshausens Barocksprache gelegt habe. Grund genug für ihn, den Simplicissimus in ein frisches Gegenwartsdeutsch zu übertragen. Und ein ironischer Rückblick auf das Jahr 2015, in dem Antoine de Saint-Exupérys Kleiner Prinz gemeinfrei geworden war, lässt darauf schließen, dass heutzutage der Name des Übersetzers manchmal sogar wichtiger ist als der des Autors. Jedenfalls fürs Marketing. Oder warum ließen die Verlage mit Peter Stamm, Peter Sloterdijk und Hans Magnus Enzensberger gleich drei Literaturgrößen zur Neuübersetzung des französischen Klassikers antreten?

Überraschenderweise finden sich in der Ausgabe aber unterm Strich mehr Fälle, in denen sich frühere Übersetzungen mindestens als weiterhin brauchbar erwiesen haben. Manchmal genügt schon eine behutsame Auffrischung wie bei einer Übersetzung des flämischen Klassikers Willem Elsschot aus dem Jahr 1952. Und manchmal erweisen sich die Vorgänger allen Modernisierungsversuchen gegenüber sogar als überlegen.

In der Übersetzungshölle

Der faszinierendste Fall ist Shakespeares Sonnet X. Dessen Übersetzungsgeschichte hat Kurt Kreiler im interessantesten Beitrag der Ausgabe untersucht. Mehr als 80-mal wurden die Sonette des Dramatikers in den letzten 200 Jahren ins Deutsche übersetzt, und gerade an dem besonders komplexen Sonnet X haben sich so große Namen wie Stefan George oder Karl Kraus versucht. Die beiden waren zu Lebzeiten so etwas wie Erzfeinde und schlugen bei ihren Übertragungen denkbar gegensätzliche Wege ein: George erfand für Shakespeare eine "hehre Eingeweihtensprache", Kraus dagegen übersetzte den Engländer ins Volkssprachliche.

Gescheitert sind für Kreiler beide, und zwar so gründlich, dass sie sich nun zur Strafe eine "Nische in der Übersetzerhölle" teilten. Kreiler verfolgt die Übersetzungsgeschichte dieses Gedichts bis in die Gegenwart – um am Ende zum Anfang zurückzukehren. Denn ausgerechnet die erste, also älteste Übertragung, geschaffen von der Romantikerin Dorothea Tieck im Jahr 1825, treffe laut Kurt Kreiler am genauesten jenen feinen Ton zwischen Tadel und Zärtlichkeit, Empörung und Zuwendung, der dem Original angemessen sei. Dass so viele Beiträge auf die Qualität und Haltbarkeit älterer Übersetzungen aufmerksam machen, ist kein geringes Verdienst dieser gelungenen Horen-Ausgabe.

(Oliver Pfohlmann, ALBUM, 17.3.2020)