Der Ausnahmezustand, der alle zusammenschweißt, schränkt Freiheitsrechte ein, neutralisiert ökonomischen und sozialen Widerstand. Im Gastkommentar sieht der Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk keinen Anlass zu einer Romantik des Ausnahmezustands.

Gebiete werden isoliert, Grenzen kontrolliert. Das Virus hält die Welt in Schach.
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Das Coronavirus hat seinen Namen offenkundig von seiner schönen kranzförmigen mikroskopischen Erscheinung. Zunehmend hat es die Bedeutung, dass es auf unabsehbare Zeit Macht auf Regierungen und Menschen ausübt. Corona ist die gegenwärtige Königin der Nacht.

Dass dies so selbstverständlich nicht ist, wie es momentan erscheint, zeigt ein kurzer Blick auf Statistiken. Ihnen zufolge sind hierzulande bis dato etwa 250.000 Menschen vom Grippevirus befallen. In den letzten Jahren fielen die tödlichen Fälle stets vierstellig aus. Nun weisen die medizinischen Experten zu Recht darauf hin, dass sich Corona von den diversen Influenzaerregern unterscheidet. Vergleiche sind indes illustrativ, weil sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten sichtbar machen.

Infrage gestellte Sicherheit

Ungeachtet ihrer Gefährlichkeit sind die diversen Grippeerreger in unseren Breiten unliebsame Mitbewohner geworden, an deren periodisches Auftauchen wir uns gewöhnt haben, auch an die Todesfälle: ältere und kranke Menschen. Corona ist hingegen eine wissenschaftlich unbekannte Größe, deren plötzliches Auftauchen aus dem Nichts eine unheilvoll spannende Geschichte generiert, auf die man so entschieden wie effizient reagieren muss, deren Ausbreitung abzuschwächen ist, um Zeit zu gewinnen. Das ist ethisch durch das Prinzip Verantwortung gedeckt, das, wenn auch unwahrscheinliche, so doch nicht unmögliche Gefahren in Rechnung stellen muss. Im schlimmsten Szenario könnte Corona zu einer heimtückischen Seuche mutieren, in harmloseren Szenarien hingegen zu einem lästigen Haustier werden, das uns alljährlich heimsucht und durch Medikamente und eine Impfung bekämpft werden kann.

Über die medizinische und ethische Seite des Kriegs gegen Corona, der zu einem Ausnahmezustand führt, wie es ihn in Europa seit Endes des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hat, ist fast alles gesagt worden. Mittlerweile hat sogar Donald Trump zur Kenntnis nehmen müssen, dass seine bisherige Tatenlosigkeit seine Wiederwahl gefährdet. Wir Menschen der privilegierten westlichen Hemisphäre leben seit drei Generationen in einer "Welt der Sicherheit" (Stefan Zweig), wir haben uns daran gewöhnt, dass Vater-Mutter Staat diese gewährleistet. Der Medienstar Corona stellt Sicherheit, die niemals vollständig garantiert werden kann, nachhaltig infrage.

Ökologischer Fußabdruck

Ein Seitenblick auf seine unbeabsichtigten Wirkungen ist erhellend. Sarkastisch gesprochen hat das unheimlich winzige Virus, das die Jungen verschont und die Alten heimsucht, erreicht, was keiner Klimakampagne gelungen ist: Reduktion des Verkehrs, Entschleunigung, Konsumverzicht. Corona macht den ökologischen Fußabdruck geringer.

Noch erstaunlicher ist, dass der Ausnahmezustand, der zunächst alle zusammenschweißt, handstreichartig Freiheitsrechte einzuschränken vermag und darüber hinaus jedweden ökonomischen und sozialen Widerstand neutralisiert. Dass das Wirtschaftssystem schwere Einbußen erleiden wird und dabei Arbeitsplätze verloren gehen werden, ist plötzlich sekundär, wenn es scheinbar unmittelbar um Leben oder Tod geht. So viel Durchsetzungsmöglichkeit würde man sich bei den drängenden Migrationsproblemen oder den ökologischen Gefahren wünschen, wo auch das Leben von Menschen auf dem Spiel steht. Nur eben nicht so hautnah im Hinblick auf das eigene.

Unheimliche Eigendynamik

Historisch betrachtet besteht indes kein Anlass zu einer Romantik des Ausnahmezustands. Zu unheimlich ist nämlich nicht bloß das Virus, sondern sind auch die in ihm angelegten dunklen Seiten: panische Reaktionen oder Revolten. Der Nachbar verwandelt sich unversehens in den potenziellen Feind des eigenen Lebens. Das soziale Miteinander und damit das Grundvertrauen der Menschen zueinander geraten in Mitleidenschaft. Die doppelte – medizinische wie soziale – Verheerung durch Seuchen wie Pest und Cholera sind tief in das kulturelle Gedächtnis Europas eingebrannt. Wir sind besessen von der Idee, dass es Schuldige geben muss. Für die mittelalterliche Pest haben unzählige Menschen, vornehmlich Juden und Fremde, infolge von Pogromen mit ihrem Leben bezahlt.

Das ist eine enorme Herausforderung für unsere demokratische Zivilisation. Mit dem Rettenden wächst die Gefahr. Je länger der Ausnahmezustand nämlich währt, desto schwieriger gestalten sich die daraus erwachsenden Probleme. Der Imperativ, wonach das Leben Vorrang hat, gerät schnell unter Druck, wenn ihm unwiederbringliche Schäden des gesamten wirtschaftlichen sozialen und individuellen Lebens gegenüberstehen. Mit sozialen Auseinandersetzungen und nationalen Spannungen ist zu rechnen.

Unheimlich ist die Eigendynamik der Krise. Niemand weiß, ob es sich um den radikalen Ernstfall oder um eine Vorsichtsmaßnahme, um eine kostspielige Feuerwehraktion handelt, die uns vorführt, dass der Staat und die moderne Medizin die Situation im Griff haben. Das werden wir wohl nie erfahren. Die über uns verhängte Quarantäne wird in jedem Fall erfolgreich sein. Selbst über ihren Preis werden wir im Nachhinein nicht streiten können. (Wolfgang Müller-Funk, 14.3.2020)