Die Debatte braucht Fakten und begriffliche Klarheit. Und die Politik muss einen durchdachten Vorschlag auf den Tisch legen, mahnt der Kulturwissenschafter Christoph Landerer.

Illustration: Michael Murschetz

Die in Österreich beliebte Methode, Asyl- und Migrationsdebatten als Meinungskriege zu führen, hat seit dem Krisenjahr 2015 kaum an Attraktivität verloren. "Frauen und Kinder zuerst" – wer wollte da widersprechen? Ein Zyniker vielleicht. Oder ein Hartherziger wie Sebastian Kurz. Oder jemand, der Daten, Fakten und belastbare Analysen einfordert, bevor hier irgendetwas entschieden wird und man sich auf eine Seite schlägt – schließlich muss geholfen werden, und das schnell. Doch die Zahl der Hilfesuchenden ist immer größer als die Möglichkeiten der Unterstützung, und nicht jedes gutgemeinte Angebot ist in der Praxis auch gut.

Das Problematische der aktuellen Debatte ist, dass sie nicht nur fast völlig faktenfrei geführt wird, sondern auch maximal verwaschen. Vertreter einer moralisierenden Auffassungsschule sehen an Fakten und begrifflicher Klarheit keinen Bedarf. Mal ist von unbegleiteten Minderjährigen die Rede (insgesamt 5500), mal von Kindern (14.200 laut UNHCR), neuerdings liest man von Kleinkindern. Mal geht es um Frauen, dann wieder um Mütter, schließlich um Witwen. "Children" sind für den UNHCR unter 18 oder nicht offenkundig älter, Kinder und Frauen nach dieser Definition stellen die Personenmehrheit in den Lagern. Kinder nach in Österreich üblicher Auffassung (je nach Bundesland unter 14 oder unter zwölf) wird man kaum ohne Begleitpersonen ausreisen lassen können, Kleinkinder schon gar nicht.

Besseres Leben

Wie werden diese ausgewählt? Ist die Aufnahme temporär, ist sie permanent, werden Asylverfahren in den Aufnahmeländern durchgeführt? Sollen Ehemänner und Väter im Rahmen von Familienzusammenführung nachkommen können? Ist an eine Stichtagsregelung gedacht, oder soll es auf diese Weise weitergehen? Kommt letztere Option in Betracht, dann wird man sich die Frage stellen müssen, ob es wirklich sinnvoll sein kann, jungen Menschen ohne Perspektive, die in der Türkei auf ein besseres Leben warten, ein Angebot zum Transfer in europäische Zielländer zu machen. Keine dieser Fragen ist wirklich geklärt. Wozu also genau will man die Zustimmung der Bevölkerung?

Der Bundespräsident hat ein kluges Wort in die Debatte eingebracht: "Wir trennen zu wenig zwischen Flüchtlingen und Migranten." Doch wie führt man diese Trennung bei jenen durch, die noch im Verfahren sind? Das Problem ist alles andere als neu; der europäische Verteilungsplan vom Herbst 2015 legte als Teilnahmekriterium eine mindestens 75-prozentige Asylchance nach Eurostat fest. Dieses Kriterium erfüllten im ersten Jahr Syrer, Iraker und Eritreer, im zweiten nur mehr Syrer und Eritreer. Doch Eritreer nehmen kaum den Weg über die Türkei, und auch Syrer sind bei den griechischen Ankünften deutlich in der Minderheit. Im Frühjahr letzten Jahres war ihr Anteil auf sieben Prozent zurückgegangen, die letzten Daten des UNHCR aus dem Jänner weisen 20 Prozent aus. Seit der türkischen Grenzöffnung dürfte der syrische Anteil weiter gesunken sein; auf Basis der Verhaftungen meldete die griechische Regierung Anfang März vier Prozent (64 Prozent Afghanen, 19 Prozent Pakistanis). Die Stichprobengröße ist mit 252 Personen überschaubar, verlässliche Sachinformation kaum verfügbar. Die Autoren eines in Künstlerkreisen zirkulierenden offenen Briefs ficht das nicht an – sie dekretieren unverdrossen: "Die Menschen an der türkisch-griechischen Grenze sind Kriegsflüchtlinge." Fakten sind hier weder relevant noch erwünscht.

Die Frage, wer hier zu welchen Bedingungen, mit welcher Perspektive und auf Basis welcher konkreten Politik aufgenommen werden soll, ist kein lästiges Detail, sondern die Kernfrage der ganzen Angelegenheit. Hans Rauscher vermisst eine "selbstbewusste No-Nonsense-Politik" der Grünen. Gut gesagt – diese entwickelt sich allerdings nicht von selbst aus Herumgerede in bester Absicht, sondern indem man einen durchdachten Vorschlag auf den Tisch legt. Ein solcher ist bisher nicht in Sicht – zumindest nicht in der medialen Debatte.

Richtige Anreize

Migrations- und Asylpolitik, die gestalten will, steht unter einer zentralen Maxime: Richtige Anreize setzen, falsche vermeiden. In diesem Sinn hatte auch der Türkei-Deal ein Element eingebaut, das die australische No-Way-Politik auf humanere Weise kopierte: Syrer auf den griechischen Inseln sollten von der Türkei zurückgenommen und gegen Syrer in der Türkei ausgetauscht werden – mit einer Priorisierung jener, die es davor nicht irregulär versucht hatten. Auf diese Weise setzt man dann, wenn sich ein substanzielles Resettlement-Paket schnüren lässt, den Anreiz, es gar nicht erst zu versuchen. Die Relocation aus Griechenland nach Westeuropa wirkt in die gegenteilige Richtung: Ist Resettlement aus der Türkei so gut wie nicht verfügbar, dann ist es bei absehbaren Transferchancen nur rational, sich auf den Weg an die Grenze zu machen.

Ein Lager ist für ein Kleinkind nicht der richtige Ort, für ein unbegleitetes schon gar nicht. Eine Umsiedlung genau umschriebener Gruppen unter genau umschriebenen Bedingungen und unter klarer Festlegung künftiger Perspektiven kann durchaus ein Anliegen sein, für das sich Mehrheiten organisieren lassen – aber das ist nun einmal nur dann zu erwarten, wenn konkrete Konzepte vorliegen, und dazu hat es die österreichische Diskussion nicht gebracht. Dass dort Skepsis regiert, wo wichtige Detailfragen nicht geklärt, ja nicht einmal diskutiert werden, ist zunächst ein Ausdruck der Vernunft des Wählers und Staatsbürgers – und nicht seiner mangelnden Empathie. (Christoph Landerer, 15.3.2020)