Oft sprechen Medien von "Starökonomen", und fast immer ist das etwas übertrieben. Nicht aber bei Thomas Piketty: 2,5 Millionen Mal hat sich sein 2013 erschienenes Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" verkauft. Nun legt er nach: Soeben ist sein zweites Werk, "Kapital und Ideologie", auf Deutsch erschienen. Darin versucht er Wege zu skizzieren, um die Ungleichheit zu verringern.

STANDARD: Sie verwenden in Ihren Büchern hunderte Statistiken in Bezug darauf, warum Ungleichheit ein Problem ist. Gibt es da eine besonders einprägsame Zahl, über die wir alle nachdenken sollten?

Piketty: Wenn Sie einprägsame Zahlen suchen, ist es das Beste, sich die Entwicklung der Vermögenskonzentration anzusehen. In europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich ist die Ungleichheit bei Vermögen gesunken, aber bis heute hoch geblieben. Der Anteil des Vermögens, der vom reichsten Prozent gehalten wird, lag im 19. Jahrhundert bei sechzig bis siebzig Prozent. Heute hält das wohlhabendste Prozent 30 bis 40 Prozent des Vermögens. Das war also eine vernünftige Entwicklung. Was mich beunruhigt, ist, dass die untere Hälfte der Bevölkerung bis heute nicht viel mehr als fünf Prozent des Vermögens besitzt. Im 19. Jahrhundert waren das rund zwei Prozent. Auch hier hat sich also etwas verbessert, aber nicht genug.

STANDARD: Was ist das Problem daran für eine Gesellschaft? Während private Vermögen ungleich verteilt sein mögen, gibt es ein enormes öffentliches Vermögen: Die Pensionen sind abgesichert, das Spitalswesen funktioniert, die meisten Schulen sind gut.

Piketty: Das ist richtig. Aber wir könnten besser sein. Dabei geht es gar nicht um die Frage, wer wie viel Geld hat. Es geht um mehr: Durch das Ungleichgewicht sind die Chancen, die wir in unseren Leben haben, völlig unterschiedlich. Wer kein Vermögen besitzt, kann sein Leben nur beschränkt planen und kontrollieren. Sie müssen sich Monat für Monat überlegen, wie Sie Ihre Rechnungen bezahlen, Sie müssen jeden Job annehmen und besitzen so gut wie keine Verhandlungsmacht gegenüber Ihrem Arbeitgeber.

STANDARD: Sie erwähnten, dass im 19. Jahrhundert alles noch viel ungleicher war. Wodurch hat sich das geändert?

Piketty: Im Wesentlichen durch die Herausbildung eines neuen politischen und sozialen Systems nach dem Ersten Weltkrieg. Damals wurde die progressive Besteuerung eingeführt, die Sozialversicherung und das Pensionssystem aufgebaut. Wobei die Dimensionen andere waren.

STANDARD: Was meinen Sie?

Piketty: In den USA zum Beispiel wurde in der Zwischenkriegszeit eines der progressivsten Systeme der Besteuerung von Einkommen und Erbschaften eingeführt. Zwischen 1930 und 1980 lag die Besteuerung von Einkommensmillionären im Schnitt bei 81 Prozent. Viele Menschen wissen das nicht, aber ich versuche in meinem Buch zu zeigen, dass das ziemlich gut funktioniert hat: Durch die sehr hohen Steuern wurde Ungleichheit geringer, und das Wachstum war hoch.

STANDARD: Wie ging das?

Piketty: Mit den hohen Abgaben wurden Investitionen in öffentliche Infrastruktur, in Schulen und Verkehrsmittel, finanziert. Wir können aus dieser Zeit eines lernen: Unsere Gesellschaften brauchen keine Milliardäre, um Wachstum zu generieren. Wir brauchen sicher Millionäre und ein gewisses Maß an Ungleichheit. Aber keine extremen Formen. In den 1980er-Jahren fand dann unter Ronald Reagan ein Kurswechsel statt, und viele dieser Spitzensteuern wurden wieder abgeschafft. Die Idee dahinter war, dass durch diese Steuersenkungen die Innovation in der Wirtschaft zunimmt, Unternehmen mehr investieren und das Wachstum höher wird und so alle profitieren. Das hat eben nicht funktioniert.

STANDARD: Was folgern Sie daraus, wie hoch sollten zum Beispiel die Steuern für Millionäre idealerweise sein?

Piketty: Aus historischen Erfahrungen würde ich sagen, 80 bis 90 Prozent wären gut. Aber mein Punkt ist gar nicht so sehr, dass wir in der Vergangenheit die idealen Steuersätze für die Gegenwart finden. Ich will zeigen, dass wir uns gemeinsam die ökonomischen Erfahrungen ansehen sollten, um daraus zu lernen. Auch konservative Politiker, denen es angesichts meiner Vorschläge die Haare aufstellt, sollten akzeptieren, dass wir eine Debatte nicht nur auf Basis von Ideologie führen dürfen, sondern uns auch die Fakten ansehen müssen.

Piketty: Auch konservative Politiker sollten akzeptieren, dass wir Debatten nicht nur auf Basis von Ideologie führen dürfen.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Wie brauchbar sind historische Erfahrungen? Der Kapitalverkehr wurde zwischenzeitlich liberalisiert. Ein Vermögender, dem in einem Land hohe Steuern drohen, kann sein Geld ins Ausland schaffen.

Piketty: Wenn wir die Art und Weise, wie das Kapital fließt, nicht verändern, können wir eine höhere Besteuerung in der Tat nicht umsetzen. Aber es gibt auch dafür Ideen. In den USA haben die beiden demokratischen Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur Bernie Sanders und Elizabeth Warren vorgeschlagen, eine Vermögenssteuer von acht Prozent pro Jahr für Multimilliardäre einzuführen. Zugleich wollen sie eine Exit-Abgabe schaffen: Wer sein Vermögen aus den USA wegschaffen will, kann das tun, muss aber 40 Prozent Steuern zahlen. Die Idee dahinter ist, dass Menschen, die Vermögen schaffen, die Infrastruktur eines Landes nutzen, das Bildungs-, Rechts- und Sozialsystem. Dass diese Menschen ihr Geld einfach wegbringen können, ist reiner Diebstahl. Der Aufbau von Vermögen ist immer ein kollektiver Prozess, das sollten wir bedenken.

STANDARD: Sie sagen, wir brauchen keine Milliardäre. Menschen wie Microsoft-Gründer Bill Gates oder Amazon-Boss Jeff Bezos haben doch Großartiges geleistet, oder?

Piketty: Ich frage mich nur, ob es sinnvoll für eine Gesellschaft ist, mehr Milliardäre zu haben. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es viel weniger, das Wachstum war aber doppelt so hoch. Die Erklärung, mehr Milliardäre schafften mehr Innovation, ist einfach nicht richtig.

STANDARD: Was schlagen Sie vor? Gates und Bezos enteignen?

Piketty: Nein. Die Macht gehört geteilt. Wenn es acht Prozent Vermögenssteuer gibt, würden diese Leute in zehn Jahren 80 Prozent ihres Vermögens verlieren. Keine Sorge: Andere würden die Aktien dieser Unternehmen kaufen, die Macht wäre geteilter.

STANDARD: Die Angst ist auch hier: Wenn wir so hohe Steuern verlangen, dann werden die Kreativen woandershin gehen. Bezos würde Amazon auf den Bahamas erfinden.

Piketty: Soll er doch, dort gibt es schöne Strände. Im Ernst: Wir müssen diese Sakralisierung einiger weniger Individuen beenden. Bill Gates hat die Microsoft-Computer nicht allein erfunden, sondern mithilfe tausender Techniker und Informatiker. Es ist übrigens wichtig zu verstehen, dass die meisten Unternehmer in Deutschland, Österreich und den USA nicht Milliardäre sind. Die Zahl der Millionäre ist viel größer. Wer sich ein solches Vermögen von ein oder zwei oder 20 Millionen verdient, ist schon sehr erfolgreich. Genau diese mittleren Unternehmer halten die Volkswirtschaft am Laufen, nicht die Superreichen.

Ist Ungleichheit überhaupt ein Problem? Ab einem gewissen Maß ja, sagt Piketty.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie schlagen vor, allen 25-Jährigen 120.000 Euro zu schenken. Woher soll dieses Geld stammen, was ist die Idee dahinter? Und vor allem: Was sollen die jungen Menschen mit so viel Geld machen?

Piketty: Das Gleiche wie reiche Kinder, die ein Erbe bekommen: Es bleibt ihnen überlassen. Ich würde das Geld aus der progressiven Besteuerung von Einkommen und Steuern nehmen. Die Ungleichheit würde mit einer solchen Maßnahme nicht enden. In Ländern wie Österreich oder Frankreich würde die Hälfte der Bevölkerung 120.000 Euro bekommen. Menschen, die vor dieser Reform eine Million geerbt hätten, würden danach laut meinen Berechnungen immer noch 650.000 Euro erhalten.

STANDARD: Aber warum dieses Geld nicht nehmen und es investieren, in staatliche Infrastruktur etwa?

Piketty: Weil ich Menschen vertraue. Ich glaube an die individuelle Freiheit. Ich schlage einen partizipatorischen Sozialismus vor: Ich will mehr Rechte für Arbeitnehmer, aber ich will auch mehr Privatvermögen für Menschen in vernünftigem Ausmaß. Das ist ein guter Weg, um individuelle Freiheit maximal zu nutzen. (András Szigetvari, 14.3.2020)