Genesis Breyer P-Orridge um das Jahr 2010 mit einem Foto seiner verstorbenen Frau Lady Jaye.

Foto: Genesis Breyer P-Orridge

Throbbing Gristle Ende der 1970er-Jahre mit Genesis P-Orridge rechts im Bild.

Foto: Mute

"When in doubt, be extreme." (Genesis P-Orridge)

"These people are the wreckers of civilisation" (Der konservative Abgeordnete Nicholas Fairbairn 1976 im britischen Parlament)

Genesis P-Orridge zählte zwar zeit seines Lebens zur Undergroundkultur. Das bedeutete, dass Kunst für den am 22. Februar 1950 als Neil Andrew Megson geborenen Briten immer auch eine tatsächlich existenzielle Angelegenheit fernab gutdotierter "High Brow"-Kunst und "Avantgarde"-Festivals bedeutete.

Ab Ende der 1960er-Jahre mit dem radikal-experimentellen Künstler-/Performance-Kollektiv COUM Transmissions und später bis Anfang der 1980er-Jahre mit der Band Throbbing Gristle ("pulsierender Knorpel", umgangssprachlich für "erigierter Penis") gehörte Genesis P-Orridge unter diesem früh gewählten Künstlernamen aber zu den definitiv einflussreichsten Figuren der Popkultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Stichwort: "Industrial Music for industrial people".

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Ausgehend von der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Tabus arbeiteten sich Throbbing Gristle an allem ab, was gegen die guten Sitten und den dazugehörigen Geschmack verstieß. Throbbing Gristle als dezidierte Antimusiker, die dem Rock das Rollen austreiben wollten, produzierten aggressive elektronische Experimente zwischen harschen rhythmischen Tonband-Manipulationen, Musique Concrète, weißem Rauschen und einer später im Punk perfektionierten Lust an der Provokation.

Dazu dienten dem weitgehend emotionslos sprechsingendem Frontmann Genesis P-Orridge sowie den Bandmitgliedern, der ehemaligen Sexarbeiterin Cosey Fanni Tutti, dem heimlichen Musiker Chris Carter und Peter "Sleazy" Christopherson (der als ehemaliges Mitglied des Designteams Hipgnosis Cover für Pink Floyd oder Genesis gestaltete) auch eine weitere Schocktaktik: Throbbing Gristle setzten bei ihren absurd lauten und magenumdrehenden Live-Shows auf die Verwendung faschistischer Symbole und schockierende Fotos aus den Konzentrationslagern der Nazis sowie auf Pornografie, Selbstverstümmelung und die Beschäftigung mit grimmigem Okkultismus.

Dunkle und verstörende Antimusik

Obwohl das heute mit dem historischen Abstand und auch angesichts später nachkommender noch härterer Bandagen von diversen Throbbing-Gristle-Schülern aus der Abteilung "Power Electronics" manchmal fast lieb und lieblich klingt: Viel dunkler und verstörender als mit Stücken wie "Zyklon B Zombie", "Hamburger Lady", "Something Came Over Me" oder "Discipline" und Alben wie "The Second Annual Report" und "20 Jazz Funk Greats" ist Musik im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht geworden. Pardon, Antimusik.

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1981 brachen Throbbing Gristle aus privaten Gründen auseinander. Genesis P-Orridge machte mit Peter Christopherson und Produzent Alex Fergusson mit wechselnden Musikern unter dem Namen Psychic TV und psychedelischen, ja, sogar balladesken Alben wie "Force The Hand Of Chance" (1982) und "Dreams Less Sweet" (1983) weiter.

"Chaos Magick" und Prototechno

Parallel dazu wurde mit "Thee Temple ov Psychick Youth" eine (ursprünglich möglicherweise ironisch gemeinte) sektenähnliche Organisation für Fans der Band gegründet, die mit dem üblichen Brimborium eines Aleister Crowley oder "Chaos Magick" vor allem auch der sexuellen Selbstverwirklichung diverser Mitglieder diente. Psychic TV und später PTV begannen sich früh für Acid House und die Ravekultur zu interessieren, davon künden auch an die hundert drogeninduzierte Liveplatten im Sinne von Prototechno.

Anfang der 1990er-Jahre verließ Genesis P-Orridge den "Temple". Nach einem öffentlichen Skandal wegen unterstellter satanistischer Rituale und Kindesmissbrauchs in Großbritannien, die sich allesamt als unwahr erwiesen, übersiedelte er nach New York. Dort heiratete er in zweiter Ehe die ehemalige Domina Jacqueline Mary Breyer alias Lady Jaye. Ihr gemeinsames "Pandrogeny Project" sollte das Paar über zahllose Body-Modification-Operationen zu einer "pansexuellen", auch physisch nicht unterscheidbaren Einheit verschmelzen.

Negatron

Musikalisch produzierte man unter dem Namen PTV3 eher unspektakulären Rock im Stile der 1960er-Jahre unter besonderer Berücksichtigung von The Velvet Underground. Nach dem Krebstod von Lady Jaye im Jahr 2007 machte Genesis, nun als Genesis Breyer P-Orridge, mit diesem Projekt weiter. Aus finanziellen Gründen wurden während der Nullerjahre sogar Throbbing Gristle für einige Jahre lustlos reformiert.

Ab 2010 zog sich Genesis Breyer P-Orridge jedoch zunehmend aus der Musik und Öffentlichkeit zurück. Nun ist er in New York seiner mehrjährigen Leukämieerkrankung erlegen. Er wurde 70 Jahre alt. (Christian Schachinger, 15.3.2020)