Die Corona Krise überschattet alles. Noch vor zwei Wochen schauten wir entsetzt dabei zu, wie Menschen an der türkisch-griechischen Grenze von Faschisten, Faschtistinnen und Polizei angegriffen wurden. Seit den verschärften Maßnahmen gegen Corona ist von der dortigen Tragödie nur noch wenig zu sehen und zu lesen. Jetzt geht es – mal wieder – nur noch um die Sicherheit und Gesundheit innerhalb nationalstaatlicher und Europas Grenzen. Die Zustände außerhalb dieser Grenzen werden beiseite geschoben. Dabei sind, wie auch durch die Klimakrise, die verheerendsten Folgen von Corona im globalen Süden zu erwarten. Gerade jetzt gilt es, die Parallelen zu sehen und die Fragen nach sozialer Umverteilung von Lasten, die Forderungen nach Solidarität auch über den Tellerrand der Coronakrise und über die Grenzen des eigenes Landes hinaus zu stellen - erst recht in Zeiten autoritärer Kontollmechanismen, die sich zu verfestigen drohen. Denn eine Krise kommt selten allein. Und die Frage nach (Un)Gerechtigkeit hat sie immer im Gepäck.

Die Ereignisse an der türkisch-griechischen Grenze der letzten Wochen führen uns am heftigsten und leider auch am anschaulichsten von Augen, was es bedeutete als Sebastian Kurz bei der Präsentation des Regierungsprogramms stolz verkündete, es sei möglich und wichtig Klima und Grenzen zu schützen. Inzwischen werden flüchtende Menschen an der türkisch-griechischen Grenze mit  Gewalt abgewehrt – unterstützt von Rechtsextremen aus ganz Europa. Auf ihre Schlauchboote wird mit Eisenstangen geschlagen oder sie werden zerstochen. Boote umkreisen sie – nicht um sie zu retten, sondern um hohe Wellen zu erzeugen, die sie vom Ufer abhalten. Die verantwortlichen Regierungen distanzieren sich nicht von diesen menschenverachtenden Taten – im Gegenteil,  das Asylrecht wird für einen Monat ausgesetzt. Die Grenzschutzpolizei schießt auf schutzsuchende Menschen. Kurzum, es werden Menschenrechte abgeschafft und durch Waffengewalt ersetzt. 

Solch faschistische Taten sind seit langem keine Einzelfälle mehr. Dennoch zeigen die Ereignisse einmal mehr, dass rechtsextremes und faschistisches Gedankengut nicht nur am rechten Rand der Gesellschaft grölt, sondern tief in der Mitte der Gesellschaft verankert ist – und Taten folgen lässt, die andere das Leben kosten. Und das zu einer Zeit, in der die Grünen hierzulande, in Deutschland und der Schweiz historische Wahlergebnisse erzielen. Zu einer Zeit, in der die Dringlichkeit der Klimakrise in der Gesellschaft angekommen ist, wozu neue soziale Bewegungen wie "Fridays for Future" ihren Teil beigetragen haben. Die Grünen in  Österreich nehmen sich dieser Dringlichkeit mit ihrer Regierungsbeteiligung an. Ohne Frage, ein mutiger und verantwortungsbewusster Schritt nach dem Wiedereinzug in den Nationalrat und wohl wissend, dass am Ende einer Amtsperiode meist die kleinere Regierungspartnerin von der Wählerschaft abgestraft wird. Jetzt heißt es Klimaschutz First. In den langen Koalitionsverhandlungen mussten die Grünen dennoch "bittere Pillen schlucken" und ihre Asylpolitik der harten Linie von Kurz' ÖVP opfern. Wirklich bitter sind diese Pillen allerdings für Menschen außerhalb der Grenzen Österreichs und Europas.

Foto: AP/Vangelis Papantonis

Kurz' Erzählung und ihre tödlichen Folgen 

Die Wirkung der "bitteren Pillen" für diese Menschen zeigen die Bilder von verzweifelten Eltern, deren Kinder gerade in eine Wolke aus Pfefferspray geraten sind. Das zeigen die Bilder von Menschen, die von Faschisten verprügelt oder mit roher Gewalt von Grenzbeamten zurück gedrängt werden. Sicherlich, die meisten Geflüchteten, die in den letzten Tagen versuchten, aus der Türkei über die griechische Grenze zu kommen, sind nicht zwingend wegen Folgen der Klimakrise geflohen. Aber das  spielt keine Rolle. Sie hätten es tun können und wären genauso brutal von ihrem Recht auf Asyl abgehalten worden. Klimaflucht ist kein anerkannter Asylgrund. Dass sich das ändert, wird trotz – oder gerade wegen – der sich zuspitzenden Lage der politischen Kultur Tag für Tag unwahrscheinlicher.

Hingegen spielt der Zusammenhang zwischen Klimakrise und Flucht eine zentrale  Rolle für die Klimabewegung. Die Ereignisse auf Lesbos zeigen, dass die Errungenschaften der Klimabewegung ganz und gar nicht weit genug gehen. Ja, die Rettung des Klimas ist eine der inzwischen als am wichtigsten anerkannten Herausforderungen, deren Lösung die Gesellschaft von der Politik fordert. Dass der CO2-Ausstoß vor der 1,5 Grad-Grenze gestoppt wird, ist dennoch bei Weitem nicht in Sicht. Doch welche Konsequenz haben Klimaschutzmaßnahmen in einer sich um mehr als 1,5 Grad aufheizenden Welt für Menschen, die nicht in wohlhabenden Ländern leben und deren Lebensgrundlagen durch Naturkatastrophen und Ressourcenkriege zerstört werden? Die wohlhabenden Länder haben die Erwärmung verschuldet und können, wie gerade sichtbar wird, ihre Grenzen komplett dicht machen. Für viele außerhalb dieser Grenzen sind es, Klimaschutz hin oder her, tödliche Konsequenzen!

Solange der Klimaschutz als rein ökologisch-technisches Problem behandelt und von sozialen Nöten getrennt wird, stehen wir vor einer erneuten humanitären Katastrophe, in welcher der Tod von Menschen ganz bewusst in Kauf genommen wird. Ob bereits in ihren Heimatländern, später auf dem Fluchtweg oder erst an der europäischen Grenze spielt innerhalb der Mauern dann schon keine Rolle mehr. Es spielt schon jetzt keine Rolle. Die EU setzt seit Jahren auf Flüchtlingsabwehr lange vor Europas Grenzen. Sie schickt  Menschen auf dem Mittelmeer zurück in Folter und Tod und nennt das "Pushback". Sie leitet Flüchtlingsrouten in der Sahelzone so um, dass Menschen verdursten müssen und nennt das "Sicherheitszusammenarbeit". Werden in Zukunft durch die Klimakrise mehr Menschen zur Flucht gezwungen, droht diese Politik noch extremer zu werden. 

Solange Klimaschutz weiterhin von globaler Gerechtigkeit getrennt bleibt, steuern wir auf ein ökologisch modernisiertes, auf erneuerbare Energien bauendes Europa zu, das dennoch zur Aufrechterhaltung des eigenen Wohlstands soziale Ausgrenzung betreibt und andere in den Tod schickt.

Klimaschutz ist nicht Klimagerechtigkeit 

Beim Klimaschutz geht es lediglich darum, die Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur zu stoppen. Das beinhaltet Maßnahmen zur Senkung des Treibhausgasausstoßes oder solche, die die Anpassung an die Folgen des Klimawandels ermöglichen sollen, etwa die Begrünung von Städten oder das Bauen von Dämmen gegen den steigenden Meeresspiegel. Die Klimakrise wird als global einheitliches Problem betrachtet, wobei der zentrale Messwert für Gegenmaßnahmen ihre Auswirkung auf die globale Erwärmung ist. Dies führt dazu, das Problem als unzureichende Berücksichtigung negativer ökologischer Auswirkungen der Wirtschaft und einzelner Technologien zu begreifen. Das kann durch Anpassung von Marktmechanismen oder technologische Innovation korrigiert werden. Es ist wenig überraschend, dass als Konsequenz dieser Lesart vor allem die Forderung nach einem CO2-Preis gebetsmühlenartig wiederholt wird. Was dabei außen vor bleibt, ist ein tieferes Verständnis der Herausforderung, vor der die Klimakrise die Menschheit stellt. Ja, es ist ein globales Problem. Nein, es betrifft nicht alle gleich. Diese Blindstelle sorgt dafür, dass Klimaschutzmaßnahmen häufig diejenigen Menschen belasten, die schon heute und ohne eigene Schuld am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Sie ist auch die Grundlage, auf der Kurz’ Motto baut: Es geht darum, weitere Erwärmung abzudämpfen, nicht um die universelle Sicherung von Menschenrechten.

Klimagerechtigkeit für eine lebenswerte Zukunft für Alle

Dagegen entstand der Begriff Klimagerechtigkeit in der Umweltgerechtigkeitsbewegung und bezieht sich explizit auf soziale Kämpfe, ob im globalen Süden oder im Kontext der Verschiebung von Umweltproblemen aus privilegierten weißen Wohngegenden in nicht-privilegierte schwarze Wohngegenden in US-amerikanischen Großstädten. Die zentrale Annahme dahinter fußt auf einer tiefer gehenden Analyse des ökonomischen Systems. Der Kapitalismus baut auf der Ausbeutung von Mensch und Natur auf, weshalb diese Ungerechtigkeiten vielfach auch in vermeintlichen Lösungsansätzen des Klimaschutzes reproduziert werden. Die Klimakrise wird entsprechend als globale Gerechtigkeitskrise verstanden. Durch sie verlieren Menschen schon heute ihre Lebensgrundlage, sei es durch Überschwemmung wie auf den Fidji-Inseln oder aufgrund von Dürren, die Subsistenzlandwirtschaft unmöglich machen. Gleichzeitig können Dürren und Missernten Mitauslöser für bewaffnete Konflikte und Kriege sein, beispielsweise in Syrien. So werden Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie suchen einen Ort, an dem sie eine Lebensgrundlage haben. Sie fliehen vor Bomben und Terror. 

In der abstrakten Diskussion um Klimaschutz bleiben diese Schicksale jedoch unsichtbar, während der Verzicht auf das Wiener Schnitzel von Kurz als Belastungsgrenze der persönlichen Opfer für den Klimaschutz definiert wird. Während es für die einen ums Überleben geht, wird im globalen Norden noch immer diskutiert, ob es Menschen zugemutet werden kann, weniger Fleisch zu essen. Im direkten Vergleich ist der Zynismus unübersehbar. Folgerichtig ist Bewegungsfreiheit zentraler Bestandteil der Forderungen der Klimagerechtigkeitsbewegung. Die Klimabewegung muss den Unterschied zwischen Klimaschutz und Klimagerechtigkeit endlich deutlicher nach außen tragen! Extinction Rebellion redet davon, dass "wir" aussterben und viele Forderungen von "Fridays for Future" bleiben bei Klimaschutz stehen, auch wenn auf Demonstrationen "What do we want? Climate JUSTICE!" die häufigste Parole ist. Das zeigt, dass Teile der Bewegung die zentrale und unauflösliche Überschneidung von Klimagerechtigkeit und Kampf gegen Rassismus und Faschismus noch nicht verstanden haben!

Klimaschutz als Zeichen für die heutige politische Kultur

Die Forderung nach Klimaschutz ist also nicht automatisch progressiv. Unzulängliche Klimapolitik, wie sie derzeit betrieben wird, braucht Grenzschutz sogar, weil sie die Zerstörung der Lebensgrundlagen im globalen Süden nicht stoppen kann – und auch gar nicht will. Es werden Menschenleben und Menschenrechte mit Füßen getreten. Die EU schickt zwar Verstärkung für Griechenland, aber nicht in Gestalt von Helfern und Helferinnen. Stattdessen sollen Polizisten und Polizistinnen dabei helfen, die flüchtenden Menschen abzuwehren, während Rechte ungehindert Menschen durch die Straßen hetzen und Hilfseinrichtungen wie das "One Happy Family" in Brand setzen. 

Dass sich Bundespräsident Van der Bellen nach den entsetzlichen Meldungen und Bildern von der griechisch-türkischen Grenze in seinen Forderungen für die Aufnahme von Geflüchteten in vorsichtigen Trippelschritten vorwagt, zeigt, dass die politische Kultur in Österreich und Europa bereits auf der Kippe steht! Die österreichische Politik kann sich nicht mal zur Aufnahme von Kindern, die in den Lagern unter widrigsten Bedingungen leben müssen durchringen, während Kommissionspräsidentin von der Leyen Geflüchtete zur Bedrohung erklärt. Für die Aufrechterhaltung des Flüchtlingspakts wird einem autoritären Machthaber noch mehr Geld zugeschoben und damit die Demokratie erneut mit Füßen getreten. Hauptsache die Grenzen bleiben dicht! Aber dafür schützen wir ja das Klima!

Kritische Zivilgesellschaft nur Feuilleton-Phantom

Was heißt das für die Klimabewegung und für die Zivilgesellschaft in Österreich und Europa? Dramatisierende Erzählungen vom Aussterben der Menschheit können solche ausgrenzenden Tendenzen sogar noch verschlimmern. Dann will jede nur noch sich selbst retten. Klima schützen? Ja, unbedingt wenn es mich sonst gefährden würde aber bitte nur so, dass es mir nichts abverlangt. Diese Not-In-My-Backyard Logik gab es von Bürgerinneninitiativen schon immer. Früher ging es um Zuglärm oder Windräder, inzwischen um die Verteidigung  des heißgeliebten Wohlstands, der Bequemlichkeiten, der materiellen Freiheiten, die bei weitem nicht allen zustehen können und auch gar nicht sollen. Demokratie? Menschenrechte? Sie werden geopfert für die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Das dürfen wir nicht zulassen.

Die politische Kultur der Bevölkerung ist entscheidend! Diese ist es schließlich, die rechtspopulistisches bis rechtsextremes Gedankengut in ihrer Mitte trägt und es toleriert, dass Flüchtlingsheime in Brand gesteckt und traumatisierte Menschen daran gehindert werden, "ihr" Land zu betreten. Sie hat aber auch die Macht, zu handeln und die vielbeschworene kritische Zivilgesellschaft endlich - während und nach dem Ausnahmezustand - zu mehr als einem Feuilleton-Phantom zu machen. Auch im Grundrechte beschneidenden Krisenmodus ist kritisches Denken möglich und vor allem notwendig. Wie das zum Ausdruck gebracht werden kann, zeigte uns die Online-Demo zum UN Tag gegen Rassismus.

Solange die Klimabewegung diese Entwicklungen nicht stärker thematisiert, rettet sie letztlich nur ihre eigenen Reihen. Solange die Zivilbevölkerung nicht schleunigst für ein menschliches Europa eintritt , führt uns jeder noch so grün scheinende Klimaschutz in eine Form der Barbarei. Noch gibt es keine bestätigten Fälle einer Infizierung mit dem Coronavirus in den völlig überfüllten Lagern. Die katastrophalen hygienischen Bedingungen dort machen diese Menschen aber ungleich verwundbarer als uns, die in warmen Wohnungen mit genügend Essen, funktionierenden sanitären Anlagen und einem Arzt in Rufweite darüber nachdenken, welche Serie in den nächsten Wochen als Ersatz für das wegfallende Kulturprogramm herhalten soll. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen schlagen daher Alarm. Dafür zu sorgen, dass sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden, während hier Schutzmaßnahmen ergriffen werden, wäre endlich ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Machen wir die kritische Zivilgesellschaft zur solidarischen Praxis! (Karoline Kalke, Katharina Keil, 23.3.2020)

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