Die eigenen vier Wände als Kraftzentrum oder Ort der individuellen Zurichtung? Hier eine Kafka-Inszenierung am Deutschen Theater.

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Es hat kaum je an ernsthaften Beteuerungen gefehlt, dass der Mensch erst unter seinesgleichen ganz zu sich komme. Gegenüber dem frommen Lob, das der kooperativen Tätigkeit zuteilwird, nimmt sich jedes Bekenntnis zur Eigenbrötelei wie Fahnenflucht aus.

So liegt auch über jeder verordneten Isolation der Ruch einer moralischen Einschränkung. Nicht nur dass unter dem Einfluss von Corona die Volkswirtschaft einen vorläufigen Scheintod stirbt. Der Zwang zur Untätigkeit ergreift vom sozial abgerüsteten Individuum unweigerlich Besitz. Indem es andere entbehrt, genügt es sich mit einem Male selbst nicht mehr.

Nur schnöde Egoisten enthalten ihre besten Kräfte dem eigennützigen Gebrauch vor. Relativ leise verhallten moderne Stimmen, die der strikten Selbstbezüglichkeit aus Vernunftgründen das Wort sprachen. Was bliebe der Welt nicht alles erspart, seufzte Blaise Pascal im 17. Jahrhundert, wenn die Leute, zu sozialer Sesshaftigkeit verdammt, mit sich allein im Zimmer säßen!

Mangel schafft Sehnsucht

Die Freiheit, sich als freier Bürger mit anderen zusammenzutun, gewann ihren Wert u. a. als Gut, über das man nicht verfügen durfte. Der akute Mangel schuf Sehnsüchte. Die einzelnen Etappen der Versammlungsfreiheit mussten in Österreich der finstersten Reaktion, vulgo Metternich und den Biedermeierbehörden, erst abgetrotzt werden. Doch im Hintergrund arbeitete die fortschreitende Industrialisierung längst mit am Umsturz überkommener Bleibegewohnheiten.

Das Zuhause blieb während des 19. Jahrhunderts der Ort, an dem man sich für den nächsten Arbeitseinsatz zur Verfügung halten musste. Es war den Kapitaleignern vorbehalten, die eigene Wohnung mit Kostproben einer schlampig angeeigneten Vergangenheit bis an die Decke vollzuräumen. Die Frage des personalen Aufenthalts ist eben nicht allein eine solche des Melderegisters.

Der Rückzugsort des Einzelnen bildet das geheime Kraftzentrum der Individualisierung. Die soll gleichzeitig dazu verhelfen, die Ansprüche von extern festgesetzten Normen zu erfüllen. Selbstredend nötigt eine solche Inanspruchnahme das Individuum dazu, über seine Bedürfnisse wie über seine Zurichtungen jeweils getrennt Buch zu führen.

Die Not wächst somit notwendigerweise ins Verdoppelte. Das bloße Ich, die freigesetzte "schöne Seele", gerät gegenüber den Anforderungen einer anonymisierten Welt zusehends ins Hintertreffen.

Verheerende Folgen eines Ausflugs

Man fühlt sich mit Blick auf die Moderne gar an Johann Nestroys Handlungsdiener Weinberl aus der Posse Einen Jux will er sich machen (1842) erinnert. Der möchte der Beengung durch ein gewöhnliches Gewürzgewölbe wenigstens für die Dauer eines klitzekleinen Ausflugs in großstädtische Gefilde entkommen.

Die Folgen seines Ausbruchs sind verheerend. Angekommen in der städtischen Freiheit, begegnet er als Erstes wieder den Vertretern des alten Zwanges. Den anonym wirksamen Mächten von Ausbeutung und Vermassung entgeht niemand. Noch der Impuls der Selbstbefreiung stößt an die Grenze der eigenen vier Wände.

Der alte Zwang trägt jeweils ein neues, gespenstisches Leintuch. Privatheit bildet in der ohnedies krisenhaften Geschichte der Moderne ein von mannigfachen Störungen durchsetztes Geschehen. Xavier de Maistres Reise um mein Zimmer (1790) drückt nichts als das Bedürfnis aus, die Isolation im nicht zu verlassenden Raum in ein Symptom schwelgerischen Reichtums und seelischer Fülle umzudeuten. Im Schiff der gekenterten Individualität ist das Subjekt allemal noch Kapitän!

Das zugerichtete Subjekt

Doch kann der Mensch mit seiner Vereinzelung und Isolation keinen Frieden schließen. Das von namenlosen Mächten erfasste und gewaltsam zugerichtete Subjekt muss seine Höhlen und Rückzugsorte eintauschen. Die unbarmherzigen Regime des 20. Jahrhundert sperren die ungezählten Einzelnen in Lager. Durch den Zangenangriff von Terror und Isolation wird die Idee des unantastbaren Heims irreparabel beschädigt. Übrig bleibt eine Form der Hilflosigkeit, die in der Katastrophenliteratur von Franz Kafka, Samuel Beckett oder Bruno Schulz albtraumhaft verwandelt wiederkehrt. In Kafkas Process muss der Angeklagte K. den fünften Stock eines Mietshauses erklimmen, um endlich an die für ihn zuständige Anklagebehörde zu gelangen.

Ein gerade einmal "mittelgroßes, zweifenstriges" Zimmer bildet den Ort der Gerichtsbarkeit. Wer dem Fortgang der ersten, K. betreffenden Tagsatzung zuhören möchte, klebt buchstäblich an der Decke: Knapp unterhalb des Plafonds ist das Zimmer von einer Galerie umgeben. Eine Menge gebückter Kiebitze stoßen gewissermaßen am Dach der Welt, an. Die Maßverhältnisse von Öffentlichkeit und Privatheit sind aus dem Lot geraten.

Es gehört zu den Vorzügen unserer Friedensgesellschaft, ihre Teilhaber – auch im Fall der Verhängung einer Quarantäne – vor eine Reihe von friedlichen Optionen zu stellen. Zu diesen gehört, folgende Frage zu beantworten: Soll man im vorerst noch behaglichen Schutz der eigenen vier Wände Kafka lesen, oder doch lieber eine Netflix-Serie schauen? (Ronald Pohl, 16.3.2020)