Der State Trooper Aaron Joseph Hicks an einer Straßensperre vor der Insel Glen Island, wo erstmals an der amerikanischen Ostküste Zelte aufgestellt wurden, in denen sich Menschen mit Corona-Symptomen auf das Virus testen lassen können.
Foto: Frank Herrmann

"Halten Sie alle Fenster geschlossen!", steht in großen Leuchtbuchstaben auf einer Tafel, wie sie sonst provisorisch an Highways aufgestellt wird, um etwa auf Baustellen hinzuweisen. Gemeint sind die Menschen in ihren Autos, die auf der Weyman Avenue in New Rochelle vor den hellroten Plastikbarrieren einer Polizeisperre warten, um über eine Zugbrücke auf eine kleine, idyllische Insel namens Glen Island zu fahren.

Wer sich in die Schlange einreiht, will sich auf das Coronavirus testen lassen, nach der Methode "drive through" – ohne aussteigen zu müssen. Nur Corona-Symptome zu haben reicht allerdings nicht. Man braucht die Überweisung eines Arztes, zudem muss man eine Hotline des örtlichen Gesundheitsamts angerufen haben. Das Amt gibt die Daten weiter an die Behörden des Bundesstaats New York, erst dann bekommt man – das kann dauern – einen Termin auf Glen Island.

Polizei ergreift Vorsichtsmaßnahmen

Und weil in den USA nach wie vor akuter Mangel an Testmaterial herrscht, weil es nur rund 200 Verdachtsfälle sind, die an einem Tag auf der Insel überprüft werden können, wacht der State Trooper Aaron Joseph Hicks darüber, dass nicht jeder, der fürchtet, sich infiziert zu haben, einfach so über die Zugbrücke fährt. Der Name muss in einer Computerdatei verzeichnet sein, sonst heißt es umkehren.

Anfangs, am vergangenen Donnerstag, als die Teststelle ihren Betrieb aufnahm, lief es so: Die Fahrer ließen die Autofenster herunter und reichten den Führerschein heraus, in Amerika das wichtigste Personaldokument. Dann aber schlugen die Polizisten Alarm, weil sie nun jede Menge Sozialkontakte mit potenziell Kranken hatten. Nun steht die Leuchttafel mit dem Hinweis "Keep all windows closed!" an der Weyman Avenue, und kontrolliert wird nach Kennzeichen.

Steht der Name des Fahrzeughalters auf der Liste der zum Test Zugelassenen, darf die Brücke passieren, wer am Lenkrad dieses Fahrzeugs sitzt. Das Okay wird nun per Megafon gegeben. "Schließlich wollen wir nicht, dass die Leute uns anstecken", sagt Hicks. "Und dass wir das Virus dann unsererseits weitergeben."

New Rochelle verwaltet den Mangel, so sehen es die Kritiker. Glen Island markiert einen Anfang, wenn auch einen bescheidenen – so sehen es die weniger Kritischen. Inzwischen haben die meisten begriffen, dass der Präsident Donald Trump die Realität auf groteske Weise schönfärbt, wenn er erklärt, dass es "wunderbar" laufe mit den Corona-Tests. In Wahrheit ist die offizielle Zahl der an Covid-19 Erkrankten wohl nur deshalb so niedrig, weil bisher kaum getestet wurde.

Erstes Drive-through-Labor an der US-Ostküste

So gesehen ist New Rochelle, eine 80.000-Einwohner-Stadt nordöstlich von New York, mit dem ersten Drive-through-Labor an der Ostküste so etwas wie ein Lichtschimmer. Es ist aber auch, neben der Gegend um Seattle, das Epizentrum der Corona-Krise in den Vereinigten Staaten. Seit dem vergangenen Donnerstag gibt es dort im Radius von einer Meile eine Sperrzone. Sie wird allerdings derart lax überwacht, dass Skeptiker fragen, worin eigentlich ihr Sinn bestehen soll.

Keine Checkpoints, kaum Polizeipräsenz, jeder kann die "Containment Zone" betreten oder verlassen, ohne angehalten zu werden. An Wochentagen fahren ab und zu Uniformierte der paramilitärischen Nationalgarde Patrouille, am Wochenende ist nichts von ihnen zu sehen. Daniel Bonnet hat daran nichts auszusetzen. Ohnehin, findet er, werde in den Medien alles so furchtbar aufgebauscht, obwohl es in New Rochelle doch ziemlich gelassen zugehe. "Ein entspanntes Umfeld", so formuliert es Bonnet, der das Community Action Program leitet, eine Initiative, die Bedürftigen hilft.

Bei Kentucky Fried Chicken verweisen Zettel darauf, dass der Imbiss nicht in der Sperrzone liegt und im Übrigen Normalbetrieb herrscht. Dennoch lässt sich kein Kunde dort blicken.
Foto: Frank Herrmann

Seit ein paar Tagen geht es im Ziegelsteinbau seiner Organisation nur noch darum, Lebensmittel zu lagern und auf Lastwagen zu laden; Reis, Mehl, Tomatenketchup, Dosen mit Champignonsuppe. Die Nationalgarde fährt sie zu Familien, die sich freiwillig in Quarantäne begeben haben.

Theoretisch ist es tatsächlich so, wie Bonnet es beschreibt: New Rochelle gibt sich alle Mühe, zumindest den Anschein von Normalität zu wahren. Mit Stand Montagfrüh bleiben Läden und Restaurants geöffnet. In der Praxis allerdings herrscht längst Ausnahmezustand. Kaum einer betritt noch eine Gaststätte, egal ob innerhalb der Sperrzone oder außerhalb, in den Geschäftsstraßen im Zentrum, rings um ein prächtiges Rathaus, dessen Säulenportal an einen griechischen Tempel denken lässt.

Bei AJ's Burgers werden regelmäßig die Tische desinfiziert, aber ein Gast hat dort schon seit Tagen nicht mehr gesessen. Dennoch herrscht Hochbetrieb in der Küche, am Tresen klingelt pausenlos das Telefon. Anwohner, die kaum noch einen Fuß vor die Tür setzen, lassen sich die Hamburger nach Hause liefern. Nebenan teilt Kentucky Fried Chicken mit, dass man statt bis 23 Uhr ausnahmsweise nur bis 21 Uhr geöffnet habe. "Wir liegen nicht in der Sperrzone. Normaler Betrieb!", ist fett unterstrichen auf einem Zettel zu lesen. Egal, der Imbiss bleibt leer.

Das Epizentrum des Epizentrums

Verwaist ist auch die Synagoge Young Israel of New Rochelle, sonst das pulsierende Zentrum einer großen, stolzen jüdischen Gemeinde. Hinten wird angebaut, doch im Moment tut sich nichts auf der Baustelle. Die Synagoge ist gewissermaßen das Epizentrum des Epizentrums: Um sie herum hat man den Sperrzonenradius gezogen.

Begonnen hatte es am 28. Februar. Lawrence Garbuz, ein Rechtsanwalt aus New Rochelle, ist bis dahin wohl noch eine Weile zu seinem Büro in der Nähe des Bahnhofs Grand Central in Manhattan gependelt, nicht ahnend, dass er sich bereits angesteckt hatte. Am vorletzten Februartag ließ er sich von einem Nachbarn in ein Krankenhaus fahren, weil er nur noch schwer Luft bekam. Da er kurz zuvor an einem Gottesdienst, einer Trauerfeier und einer Bat-Mizwa in der Young-Israel-Synagoge teilgenommen hatte, wurde allen ebenfalls anwesenden Gemeindemitgliedern empfohlen, ihre Wohnungen für zwei Wochen nicht mehr zu verlassen.

Das Beispiel New Rochelle hat den Amerikanern, die der Krise anfangs mit demonstrativer Gelassenheit begegneten, anschaulicher als jede Statistik vor Augen geführt, wie leicht sich das Virus ausbreiten kann.

New Rochelle, vom Stadtbild her seit einigen Tagen eine Geisterstadt. Hier ein Blick auf das Rathaus.
Foto: Frank Herrmann

Mittlerweile sind im Westchester County, dem Verwaltungsbezirk, in dem New Rochelle liegt, knapp 200 Corona-Fälle registriert, während es im gesamten Bundesstaat New York über 600 sind. Andrew Cuomo, der Gouverneur des Staates, der im Gegensatz zu Trump Tacheles redet, hat deutlich gemacht, dass die Zahlen ein trügerisches Bild vermitteln und nicht mehr sind als eine vergleichsweise rosige Momentaufnahme. Amerikas Kliniken seien dem zu erwartenden Ansturm in keiner Weise gewachsen, schrieb er in der "New York Times".

"Das würde unser Gesundheitssystem zusammenbrechen lassen"

Schätzungen zufolge könnten sich 214 Millionen US-Bürger, etwa zwei Drittel der Bevölkerung, mit dem Virus infizieren. "Das würde unser Gesundheitssystem zusammenbrechen lassen", warnt Cuomo und beschreibt die Lage im Staat New York. Der verfügt bei rund 20 Millionen Einwohnern über 53.470 Krankenhausbetten, davon 3.186 auf Intensivstationen. In den USA insgesamt gebe es weniger als eine Million Klinikbetten – pro Kopf weniger als in China, Südkorea oder Italien, fügte der Gouverneur hinzu. Wegen des Mangels drohe noch Schlimmeres als das, was man derzeit in Italien erlebe. (Frank Herrmann aus New Rochelle, 17.3.2020)