STANDARD: Sie beschäftigen sich seit langer Zeit professionell mit Angst. Welches Gefühl haben Sie persönlich in der Corona-Krise?

Bandelow: Ich bin natürlich auch beeinträchtigt und zum Nichtstun verdammt, meine Vorträge sind abgesagt. Aber die Angst, dass ich persönlich das Virus bekommen und sterben könnte, verdränge ich.

STANDARD: Also auch ein Angstforscher verspürt Angst?

Bandelow: Ich versuche es rational zu sehen. Die Chance, dass ich es bekomme und beatmet werden müsste, ist extrem gering – geringer als sechs Richtige im Lotto.

Borwin Bandelow (68) ist Psychiater und Neurologe, Psychologe und Psychotherapeut. An der Universität Göttingen in Niedersachsen hat er eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie inne. Er ist Ehrenvorsitzender der von ihm gegründeten Gesellschaft für
Angstforschung.
Foto: Imago / Müller-Stauffenberg

STANDARD: So versuchen viele Menschen zu denken, aber es gelingt ihnen nicht, sie haben Angst. Verstehen Sie das?

Bandelow: Natürlich. Wenn eine Gefahr auftritt, die neu und unbeherrschbar ist, dann hat man Angst. Im vergangenen Jahr sind in Deutschland 15.000 Menschen am Krankenhauskeim MRSA gestorben, 25.000 an der Grippe und 9.000 bei Haushaltsunfällen. Aber das ist kein Thema, niemand regt sich groß auf, weil man es sozusagen auf dem Schirm hat und sich daran gewöhnt. Das Gleiche gilt auch für Fahrten auf der Autobahn. Man weiß, dass schwere Unfälle passieren können – und fährt dennoch.

STANDARD: Was macht mehr Angst? Das Virus oder die Umstände?

Bandelow: Am Anfang das Virus selbst, dann aber auch die Folgen, die man natürlich vor Augen hat. Man sorgt sich um ältere Angehörige oder jene mit Vorerkrankungen. Dazu kommt die Angst vor wirtschaftlichen Pleiten. Die meisten Menschen in Deutschland besitzen keine Aktien, machen sich aber Angst um die Börsen.

STANDARD: Österreich und Deutschland reagierten unterschiedlich, Österreich hat sehr strenge Regeln erlassen. Was ist besser?

Bandelow: Österreichs rigorose Linie hilft gegen die Angst. Dort läuft es sehr stringent. Die Leute wollen in der Krise jemanden, der sie anleitet und klare Worte spricht.

STANDARD: Müsste Deutschland auch strenger sein?

Bandelow: Wenn man gleich am Anfang sehr viele sehr harte Maßnahmen angekündigt hätte, dann wäre erst richtig Panik ausgebrochen. Die womöglich unfreiwillige Salamitaktik ist schon in Ordnung. Aber es gab einiges Hin und Her. Zunächst hieß es: Schulen und Grenzen werden nicht geschlossen, dann ging es doch. Die Kanzlerin hat sich auch eher spät gemeldet. Das hinterlässt das Gefühl, dass es keine klare Linie gibt, und trägt zur Verunsicherung bei.

STANDARD: Wer ist für Ängste in Corona-Zeiten besonders anfällig?

Bandelow: Die Angst ist unter der Bevölkerung ganz "normalverteilt", so wie alle menschlichen Eigenschaften – es gibt ängstliche, furchtlose und mittlere. Nicht mehr Ängste haben jene Leute, die bereits an Angsterkrankungen leiden, da diese Angsterkrankungen im Hirn woanders sitzen als reale Ängste. Das haben wir schon nach den Anschlägen auf das World Trade Center und nach Terroranschlägen beobachtet, dass nicht mehr Menschen in die Klinik kommen. Es gibt natürlich Extreme: Manche kapseln sich völlig ab, andere, sogenannte Corona-Leugner, machen extra Partys. Zur großen Gruppe von Mittel-Ängstlichen zählen die, die keine Panik haben, sich aber keinem unnötigen Risiko aussetzen.

STANDARD: Sehen Sie die Gefahr, dass Flüchtlinge oder alte Menschen besonders retraumatisiert werden?

Bandelow: Ältere Menschen haben oft paradoxerweise weniger Angst, weil sei eben schon so viel durchgemacht und überlebt haben – obwohl sie stärker gefährdet sind. Bei Flüchtlingen verstärkt sich das Gefühl, dass sie nirgends mehr sicher sind.

STANDARD: Kann Quarantäne auch Ängste verstärken?

Bandelow: Das ist ein großes soziales Experiment, von dem wir noch nicht wissen, wie es ausgeht. Zunächst erscheint es vielen zu Hause nicht schlecht zu gefallen, man kommt endlich dazu, Dinge zu erledigen, etwa im Garten oder am Balkon. Dank sozialer Medien ist man ja auch im ständigen Austausch. Aber dann kommt die Zeit, in der man doch ein Bierchen trinken möchte in der Gruppe und Menschen vermisst. Unklar ist auch, ob Paare in der Krise eher zusammenhalten oder sich zerstreiten, wenn sie so eng aufeinanderhocken. Wenn alles eines Tages durch ist und es kaum noch Neuinfektionen gibt, erwarte ich – wie nach dem Ersten Weltkrieg – große Partys, hoffentlich im Sonnenschein.

STANDARD: Wie lange hält Angst an? Irgendwann flaut sie ja auch wieder ab.

Bandelow: Wir wissen, dass sich Soldaten, die ständig unter Beschuss stehen, binnen Tagen an die Angst gewöhnen. Auch sonst sind Menschen flexibel und passen sich nach rund vier Wochen an. In Kabul, Rio de Janeiro und Johannesburg, also in sehr gefährlichen Städten, gehen die Menschen auch auf den Markt und kaufen ganz normal Tomaten.

STANDARD: Was raten Sie Menschen, die Angst haben?

Bandelow: Man kann schlecht sagen: Atmen Sie die Angst weg oder trinken Sie grünen Tee, weil das Angstgehirn zunächst stärker ist als das Vernunftgehirn. Aber ich würde raten: Versuchen Sie das Vernunftgehirn siegen zu lassen.

STANDARD: Helfen die vielen Witze, die jetzt kursieren?

Bandelow: Man bekommt ja stündlich einen Corona-Witz aufs Handy, manche sind wirklich gut. Es hilft, weil es uns die Relation besser sehen lässt über eine schwere Zeit hinweg. (Birgit Baumann aus Berlin, 17.3.2020)