Scott Morrison beim Feiern in seiner Freikirche.

Foto: Imago / Mick Tsikas

Der Messias für die Gläubigen der australischen Pfingstgemeinde trägt Glatze und Brille: Scott Morrison (51), im vergangenen Jahr überraschend wiedergewählter Premier von Australien, ist aktives Mitglied der Freikirche. Jeden Sonntag betet er im Gottesdienst in einer Halle in Sydney. Ein inzwischen notorisches Foto zeigt ihn in ekstatischer Verzückung, scheinbar in direktem Gespräch mit seinem Gott. Das Bild war nicht von einem Paparazzo aus Distanz aufgenommen worden. Die Presse war bei der Messe dabei – auf Einladung des Premierministers.

Von Gott sei Morrison am 18. Mai im Amt bestätigt worden, zur Rettung einer sündenbeladenen Nation, predigte ein Pfingstgemeindepriester im letzten Jahr. "Die konservative Partei hat einen neuen Premierminister gewählt, Scott Morrison. Gläubige glauben, dies ist ein Wunder Gottes."

Die Wahl als Gottes Wunder

Ein "Wunder Gottes" in einem Land, das traditionell mit Religion wenig am Hut habe, erklärt der Religionswissenschafter Mark Jennings von der Murdoch University in der westaustralischen Stadt Perth: "Im Vergleich zu Amerika sind die Australier überhaupt nicht religiös." Der Großteil der Bevölkerung zähle sich – zumindest auf dem Papier – dem katholischen oder anglikanischen Glauben zu, "geht aber kaum zur Kirche, außer bei Hochzeiten und Beerdigungen". Als Pfingstler – so die Abkürzung für die Mitglieder der Freikirche – identifizierten sich bei der Volkszählung von 2016 nur 1,1 Prozent der Australier. Spätere Schätzungen gehen bereits von etwa 2,5 Prozent aus. Weltweit gehören der Pfingstbewegung 300 Millionen Menschen an, die meisten davon in den USA, Südamerika, Afrika und Teilen Asiens.

Auch Morrison selbst sieht sich als Auserwählter. Seine Wahl sei ein Wunder gewesen, sagte er damals. Denn Wunder gebe es. Davon sei er als Christ überzeugt. Seine Zugehörigkeit zu einer Kirche, die laut Kritikern eine apokalyptische Weltanschauung hat, erfüllt allerdings einige Australier mit Unbehagen. "Die Pfingstbewegung glaubt, die Welt werde bald ein gewaltsames, feuriges Ende nehmen und die Gläubigen ins Paradies kommen", erklärt Jennings. "Alle anderen dagegen erwarte ein unangenehmes Schicksal."

Die Opposition in der Hölle

Die Hölle nämlich. Kritiker stellten vor allem während der jüngsten verheerenden Waldbrände die Frage, ob Morrison eine fatalistische Endzeit-Einstellung habe – gegenüber den Feuern, gegenüber dem Klimawandel, laut Wissenschaftern die Hauptursache der Katastrophe. Morrisons Verhalten hatte scharfe Kritik geerntet: Erst hatte er die Gefahr negiert und flog nach Hawaii in Urlaub, dann stritt er den Zusammenhang mit der globalen Erwärmung ab. Auch heute, nach den Feuern, wehrt er sich gegen einschneidenden Klimaschutz.

Der Experte Mark Jennings meint, es sei nicht möglich, Morrisons Denken und Handeln direkt auf seinen Glauben zurückzuführen. Der Premierminister könne allerdings "tatsächlich an den baldigen Weltuntergang glauben und den Kampf gegen den Klimawandel deshalb als vergebliche Liebesmüh sehen". Wahrscheinlich sei jedoch der starke Druck konservativer Klimawandelleugner in Morrisons eigener Partei verantwortlich für die fragwürdige Klimapolitik. "Denn eigentlich ist Morrison politisch ein Pragmatiker, der handelt, wenn Handlungsbedarf besteht."

Spät, aber mit Gottvertrauen

Dem widerspricht nun allerdings der Umgang mit dem Problem Coronavirus. Morrisons Sprache ist zwar bestimmt. Experten kritisieren aber seine angeblich langsame Reaktion auf die eskalierende Krise. Am Dienstag forderten Ärzte in einem offenen Brief eine drastische Verschärfung der Maßnahmen nach italienischem Vorbild. Nur die Reduktion des öffentlichen Lebens auf essenzielle Dienste könne eine dramatische Ausweitung der Krankheit in den kommenden Wochen verhindern.

Am Dienstag hatte Australien 377 offiziell registrierte Krankheitsfälle und drei Todesopfer. Eine Beschränkung für Massenveranstaltungen auf 500 Menschen ließ er gegen den Rat von Experten erst Montag und nicht schon Freitag in Kraft treten. Noch am Samstag trafen sich in Sydney die Mitglieder der Pfingstgemeinde zu einem Kongress mit mehreren tausend Teilnehmern.

Geld hat, wer es verdient

Unbestritten ist, dass Morrison dem Dogma seiner Kirche folgt. Und die ist stark konservativ: keine Abtreibung, keine Ehe für alle – obwohl diese in Australien längst eingeführt ist. "Pfingstler neigen dazu, eine sozial konservative Position zu Themen wie gleichgeschlechtliche Beziehung und Heirat einzunehmen. Das beruht auf einem wörtlichen Zugang zur Heiligen Schrift, zusammen mit einer 'restaurationistischen' Ansicht, dass die sozialen und ethischen Normen der Zeit des Neuen Testaments auch heute noch gelten sollten", so Jennings. Der Kirche werde zudem vorgeworfen, sie habe eine unkritische Sichtweise auf Geld und Kapitalismus. Ein oft zitiertes Beispiel dafür sei der Glaube an die Wohlstandstheologie, die finanziellen Erfolg und körperliches Wohlergehen mit Gottes Segen verbindet. Materieller Erfolg im Leben als Schlüssel zum Paradies: Morrison folge neoliberaler Ideologie, wenn es um Wirtschaftspolitik geht.

Spätestens bei der Asylpolitik Australiens – die jahrelange Inhaftierung von Flüchtlingen auf isolierten Pazifikinseln – stelle sich auch die Frage, ob Morrisons Bekenntnis zu christlicher Nächstenliebe glaubwürdig ist. In seiner ersten Rede vor dem Parlament sagte er: "Welche Werte leite ich also von meinem Glauben ab? Meine Antwort kommt von Jeremia, Kapitel 9,24: 'Ich bin der Herr, der auf Erden liebevolle Güte, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit ausübt; denn ich freue mich an diesen Dingen, erklärt der Herr.'" Als Einwanderungsminister verschärfte Morrison dann die von Kritikern als "unmenschlich" und "grausam" bezeichnete Behandlung von Flüchtlingen derart, dass sie von verschiedenen internationalen Organisationen als Folter verurteilt wird. (Urs Wälterlin aus Sydney, 17.3.2020)