Seattle, Ende 1918: Polizisten während der Spanischen Grippe, die sich nachhaltig auf die globalen Beziehungen auswirkte.

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Es war mit weltweit rund 50 Millionen Toten die folgenreichste Pandemie des 20. Jahrhunderts, sie forderte mehr Tote als der Erste Weltkrieg. Wir können heute nur hoffen, dass die Opferzahlen der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete, durch Covid-19 ziemlich genau 100 Jahre später nicht erreicht werden.

Abgesehen von vielen epidemiologischen Unterschieden gibt es aber auch einige erstaunliche kulturhistorische Parallelen zwischen der Spanischen Grippe der Jahre 1918/19 und Covid-19 etwas mehr als 100 Jahre später. Bereits 1918 gab es am Beginn der Pandemie Geheimhaltung und fatale Verzögerungen bei den Maßnahmen; schon damals waren – noch ganz ohne soziale Medien – jede Menge Falschnachrichten im Umlauf, und Fußballspiele fanden ohne Publikum statt. So wie heute machten auch damals viele Länder wegen der Grippewelle die Grenzen dicht.

"Chinesisches Virus"

Tara Zahra: "Die damaligen Namen für die Spanische Grippe waren um einiges fremdenfeindlicher als die heute für Covid-19."
Foto: Annette Hornischer

"Die damaligen Namen für die Spanische Grippe waren um einiges fremdenfeindlicher als die heute für Covid-19", meint die US-amerikanische Historikerin Tara Zahra. So nannten die Polen die Spanische Grippe die "bolschewistische Krankheit", die Dänen dachten, sie käme "aus dem Süden". Für Brasilianer war es die "deutsche Grippe" und für die Bewohner des Senegals die "brasilianische Grippe". Heute ist US-Präsident Trump eher die xenophobe Ausnahme, wenn er Covid-19 als "chinesisches Virus" bezeichnet.

Zahra, eine vielfach ausgezeichnete Geschichtsprofessorin an der Universität Chicago, interessiert sich aus einer spezifischen Perspektive für die Spanische Grippe: Im Zentrum ihres nächsten Buchs, das sie gerade fertigstellt, steht nämlich die Krise der Globalisierung in der Zwischenkriegszeit. Und wie ihre Recherchen zeigten, hat die Spanische Grippe dabei eine wichtige Rolle gespielt.

Etwas ganz Ähnliches wird wohl auch das Coronavirus für die 2020er-Jahre bringen, vermutet die 43-jährige Historikerin. Längst hat man in den letzten Wochen Maßnahmen ergriffen, um die globalen Lieferketten zu verringern und die Produktion zurück in die eigenen Länder zu holen. Wie weit diese Deglobalisierung in den nächsten Monaten und Jahren noch gehen wird, steht in den Sternen.

Kein unaufhaltsamer Prozess

Begonnen hat diese heutige Krise der Globalisierung aber schon etliche Jahre vor Covid-19, erklärt die Historikerin, die sich vor vier Jahren für das Thema zu interessieren begann. Anfang des 21. Jahrhunderts sah es so aus, als ob die Globalisierung – trotz kleiner Gegenbewegungen – ein mehr oder weniger unaufhaltsamer Prozess sei. Doch 2016, ein Jahr nach der sogenannten Flüchtlingskrise, die Zahra lieber als "Flüchtlingspanik" bezeichnet, wurde Trump zum US-Präsidenten gewählt, die Briten stimmten für den Brexit, und es kam international zu einem Aufschwung rechtsnationaler Bewegungen.

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Der Historikerin, die 2014 ein renommiertes MacArthur Fellowship (in den USA auch als "Geniepreis" bekannt) gewann, fielen bestimmte Ähnlichkeiten dieser heutigen Entwicklungen mit der Situation nach dem Ersten Weltkrieg auf, und sie begann, in Archiven in Österreich, Deutschland, Italien, Polen und Tschechien nach Hinweisen zu suchen, ob es auch schon nach 1918 so etwas wie eine Deglobalisierung gegeben habe.

Gesunkene Migrantenzahlen

Aus Sicht der Wirtschaftspolitik und auch für die Migration sei diese These gut belegbar: "Der internationale Handel ging nach einer Phase der starken Globalisierung, die es zwischen 1880 und 1914 gegeben hat, stark zurück", so Zahra. "Und die weltweiten Migrantenzahlen erreichten erst wieder in den 1970er-Jahren die Werte von vor dem Ersten Weltkrieg."

Zahra hat sich in mehreren Büchern mit Migration, den beiden Weltkriegen und ihren Folgen befasst. So etwa geht es in "The Great Departure: Mass Migration from Eastern Europe and the Making of the Free World" (2016) um die rund 50 Millionen Europäer vor allem aus Osteuropa, die zwischen 1846 und 1940 in die USA aufbrachen. "Im Zusammenhang dieser Migration gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg Ängste, dass diese Migranten zu den neuen Sklaven der Globalisierung werden könnten", räumt Zahra ein.

Linke und rechte Globalisierungskritik

In den 1920er-Jahren habe es dann – ähnlich wie in Europa Anfang des 21. Jahrhunderts – eine linke Antiglobalisierungsbewegung gegeben, die kritisierte, dass die Globalisierung zu viel Unsicherheit und Ungleichheit und Armut schaffen würde. Im Laufe der Zwischenkriegszeit übernahm dann aber die Rechte immer stärker eine globalisierungskritische Agenda, so Zahra, die aber auch die Unterschiede zwischen linken und rechten Gegenvisionen betont.

Diese Entwicklung lasse sich auch gut an Österreich zeigen, so Zahra. Mit den Pariser Vorortverträgen 1919 und dem teilweisen Ausschluss der Verliererstaaten aus der Weltgemeinschaft habe hier der Glaube geherrscht, dass man innerhalb der neuen Grenzen nicht eigenständig überleben kann. "Im Roten Wien gab es deshalb viel Unterstützung für die Siedlerbewegung, und viele Bewohner der Stadt begannen, sich als Selbstversorger zu betätigen." Diese Konzepte seien dann ab 1924 zugunsten der großen Gemeindebauten in den Hintergrund gerückt und erst nach dem Börsenkrach 1929 wieder propagiert worden.

In der Zwischenzeit hatten sich aber auch die Rechte dieser Ideen angenommen. Und auf staatlicher Ebene hatten das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland den Plan, durch Expansion zu einem Großreich zu werden, das sich mit eigenen Kornkammern – sei es in Äthiopien oder in der Ukraine – selbst versorgt und von der Weltwirtschaft unabhängig wird.

Mehr als nur Nationalismus

"Bisher hat man die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, die zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führten, fast ausschließlich unter den Aspekten des ethnischen und rassistischen Nationalismus begriffen", sagt Zahra, die nächste Woche den Eröffnungsvortrag der verschobenen Konferenz "Europa ethnisieren. Hass und Gewalt im Post-Versailles-Europa" des Wiener Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien hätte halten sollen. "Ich denke, dass man die damaligen Entwicklungen auch als Gegenreaktion auf die Globalisierung in den Jahrzehnten zuvor analysieren sollte. Dieser Aspekt wurde bis jetzt unterschätzt."

Was aber bedeutet das für die aktuelle Lage, die nicht zuletzt aufgrund von Covid-19 ebenfalls eine Krise der Globalisierung bringen dürfte? Zahra, die sich selbst als öffentliche Historikerin versteht und wenig davon hält, sich im akademischen Elfenbeinturm abzuschotten, glaubt nicht, dass wir so einfach aus der Geschichte lernen können: "Unsere Aufgabe als Historiker kann es entsprechend nur sein, die historischen Bedingungen zu analysieren, die damals zu einer Deglobalisierung und zum Faschismus geführt haben – ohne dass das eine notwendigerweise im anderen enden muss." (Klaus Taschwer, 18.3.2020)