Flaneur durch die Pariser "Passagen": Walter Benjamin, aufgenommen 1928.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Der Begriff der "Passage" entfaltet seinen ganzen Zauber, wenn man eine Großstadt wie Paris nostalgisch ins Auge fasst. Für Walter Benjamin wird die Metropole des 19. Jahrhunderts zur Teststrecke. Auf ihrem Stadtgebiet, am bunten Wirbel ihrer flüchtigen Sensationen, soll sich die Sensibilität des modernen Menschen bewähren.

In Benjamins zum Weinen schöner Kurzprosasammlung "Einbahnstraße" (1928) wird der vergängliche, rasch wieder verdunstete Eindruck zum Gegenstand von Kontemplation. Die Moderne ist die Tabula rasa, die höchstens Bruchstücke und Trümmer hinterlässt. Ihre verwaisten Gegenstände deuten ihrerseits auf Kindheitsmuster hin. Und stets sind es Durchbrüche und Querverbindungen, die ein Gewirr aus Straßenverläufen und Wohnblocks (mit Gassenlokalen) erkennen lassen: als Parcours von lauter kleinen, unscheinbaren Sensationen. So entsteht, unter Kapitelüberschriften wie "Fundbüro", "Coiffeur für penible Damen" oder "Bogenlampe", eine Kartographie von Prägestätten. Orte, die helfen sollen, Produkte einer regsamen Empfindsamkeit in Aphorismen und Merksätze umzumünzen.

Die Neige des Menschen

"Der Blick ist die Neige des Menschen.": Solche und ähnliche Einsichten gelangen z.B. unter dem Geschäftsschild "Optiker" in die Auslage. Benjamin, das ewige Kind unter den Großdenkern des 20. Jahrhunderts, verbietet sich jede plane Illustration von Thesen, womöglich solchen, die man der Wirklichkeit wie ein grobes Netz aus Begriffen überwerfen kann.

Lieber arbeitet er an der Verwischung des Unterschiedes von These und Argument. Auf einem Portal in Florenz sieht er die "Spes" Andrea de Pisanos sitzen. Sie erhebt – so schildert es der jüdische Marxist – "die Arme nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie geflügelt." Schlusssatz der kleinen Betrachtung: "Nichts ist wahrer."

Es ließe sich im Nachhall solcher Genieblitze getrost behaupten: Manche Wörter sind eben geflügelter als andere. Aber nichts wäre falscher, als den philosophischen Prosakünstler Walter Benjamin (1892-1940) der Kurzatmigkeit zu verdächtigen. Einige seiner Bucheinträge schwellen an zu kleinen Essays (und zu verwirrenden Traumnotaten). Was unter dem ausladenden Titel "Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung" sich pointiert verewigt findet, ist das vervollständigte Bild der Unkultur um 1900: Überbleibsel des überladenen "Interieurs der sechziger bis neunziger Jahre". In diesem weisen noch die abgeschmackten Dekorationsstücke, der Dolch im Silbergehänge überm Divan, auf den unweigerlich mörderischen Verwendungszweck hin.

Charakter der Wohnung

Der Charakter der bürgerlichen Wohnung sei es eben, so Benjamin, nach dem "namenlosen Mörder zu zittern". Insgesamt wird das Muster einer Ordnung rekonstruiert, deren angeblich eherne Prinzipien von Vergänglichkeit künden. Vom immer stärker spürbaren Unrechtsgehalt einer im Ganzen erodierenden Gesellschaft zeugen auch Benjamins Einträge zur Weimarer Republik.

Und doch wird man diese 80 Buchseiten – abgerechnet die zahlreichen Nachträge und Varianten – für eine Feinnervigkeit schätzen, die im Unrat der Zivilisation den Stoff einer kommenden Erlösung aufstöbert. Wie dem kindlichen Auge die prismatische Farbenpracht eines einfachen Satzes Briefmarken unverlierbar bleibt, so sind noch im zerstörten Hausrat genug Keimstoffe enthalten: Beweismittel für künftiges Glück.

Wir Menschen dürfen nicht glauben, unerkannt zu bleiben und aus der Verantwortung ausgeschlossen zu sein: "Beim Ekel vor Tieren ist die beherrschende Empfindung die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden." Ein für allemal erkannt zu sein und sich dennoch gegen eine Entwicklung nicht zu sperren, die uns und unseren menschlichen Möglichkeiten besser zu Gesicht steht: In der Gestaltung einer solchen rätselhaften Transformation steckt das ganze Geheimnis. Die eigene Vergangenheit, schreibt Benjamin, wäre es wert, als "Ausgeburt des Zwanges und der Not betrachtet" zu werden. Das Leben wäre als "schöne Figur" zu betrachten, der "auf Transporten alle Glieder abgeschlagen wurden". Sie gäbe nichts als den kostbaren Block ab, aus dem man "das Bild seiner Zukunft zu hauen hat."

Man muss sich Sisyphos nicht lediglich als glücklichen Mann vorstellen. Er ist obendrein autoplastischer Bildhauer. (Ronald Pohl, 20.3.2020)