Im Gastkommentar nähert sich der Romanautor Dominik Barta der Corona-Debatte über die Flüchtlingskrise.

Volker Pabst berichtete in der Neuen Zürcher Zeitung von Montag, 16. März 2020, von 1,5 Millionen intern Vertriebenen, die nach wie vor in Idlib leben, 3,6 Millionen geflüchteten Syrern in der Türkei und 42.000 Asylwerbern auf den fünf griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos. Weit über fünf Millionen Menschen leben demnach unter "hochproblematischen" Lagerbedingungen. Ihnen fehlt unter anderem der Zugang zu sauberem Trinkwasser, vom Händewaschen mit Seife gar nicht zu reden. Gleichzeitig werden sowohl aus Syrien als auch aus der Türkei als auch von den griechischen Inseln erste Corona-Fälle gemeldet. Das Horrorszenario von tausenden Toten in den Flüchtlingslagern lässt sich mit Händen greifen. Zur selben Zeit sterben in Italiens Spitälern tausende Menschen, da das staatliche Gesundheitssystem nicht tausende Personen gleichzeitig versorgen kann.

NGOs warnen vor einem Coronavirus-Ausbruch in den überfüllten Camps auf den griechischen Inseln, wie hier in Moria auf Lesbos.
Foto: AFP / Manolis Lagoutaris

Die Unterschiede

Werden die Corona-Toten von Bergamo und die Corona-Toten aus den Lagern von Lesbos gleichermaßen unter dem Stichwort "tragische Opfer" zu rubrizieren sein? Ist es ethisch gerechtfertigt oder im Gegenteil geschmacklos, hier auf einem Unterschied beharren zu wollen? Ist Sterben immer gleich tragisch, egal wen es trifft, weil der Tod seit Menschengedenken der große Gleichmacher unter den Völkern der Erde ist? Nun, die praktischen Umstände des Sterbens weisen sehr wohl Unterschiede auf.

Der Mailänder Bürger, der am Coronavirus stirbt, stirbt in seinem Land, unter der Hand von erschöpften Ärzten und Ärztinnen, die, solange es eben ging, Italienisch mit ihm sprachen. Er wird in seiner Gemeinde begraben und von seiner Familie betrauert werden. Der Flüchtling auf Lesbos wird sterben, ohne dass ihn je ein Arzt gesehen hat. Fernab seiner Familie wird er, wie man sagt, verenden. Ein namenloser Toter, den man in einem Plastiksack aus dem Lager schaffen wird. Der syrische oder kurdische oder afghanische oder pakistanische oder somalische Flüchtling wird nach seinem Tod eine Leiche sein, aufgehoben in keinem personalisierten Grab. Wenn überhaupt, wird er in die anonymen Zahlenreihen der Statistik Eingang finden.

Entrechtete Existenz

Worin liegt die spezifische Differenz zwischen diesen beiden Toten? Macht es einen Unterschied, ob man als Bürger eines Landes oder als Flüchtling stirbt? Dürfen anthropologische Differenzen hier ins Treffen geführt werden? Haben wir Europäer, gerade in Krisenzeiten, ein Gefühl für den Skandal der völlig entrechteten Existenz?

1949 spürt der österreichische Schriftsteller Hermann Broch, dem 1938 die Flucht in die USA gelungen war, diesen Skandal noch am eigenen Leibe. In regem brieflichen Austausch mit seiner Freundin Hannah Arendt schwebt ihm ein "Menschen-Naturrecht" vor, welches jeglicher konkreten Politik vorausgehen soll. Er bezieht sich damit auf dieselbe Idee, die der berühmten Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 zugrunde liegt und den Titel "217 (III) International Bill of Human Rights" trägt. Arendt sieht Brochs "Menschen-Naturrecht" mit Skepsis, anerkennt jedoch seinen Grundgedanken, dass das Menschenrecht ein gleichsam angeborenes Recht sein muss; das heißt ein Recht, das unabhängig von allen konkreten Staaten und Gesetzbüchern existiert und jeden einzelnen Menschen, egal woher er kommt, prinzipiell schützt.

"Nackte Leben"

Sowohl Broch als auch Arendt erlebten am eigenen Leib die Gefährlichkeit einer Existenz, der der staatliche Boden entzogen wurde. Beide wussten: Wer kein Land mehr hat, der wird auf fatale Weise rechtlos, zumal im Zustand ansteigender Not. Der Geflüchtete, der auf keine Bürgerrechte verweisen kann, weil kein Flecken Erde mehr "der seine" ist, wird zum Irrlicht der chaotischen Weltläufte. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben verwendete dafür den Begriff des "nackten Lebens".

Rund um Europa häufen sich die "nackten Leben". Weit über fünf Millionen Menschen lagern auf kaltem Boden in völliger Rechtlosigkeit, und die allgemeine Corona-Krise potenziert ihre existenzielle Nichtigkeit. Allein, die primitiven Viren, die von den politischen Spielen der Menschen nichts wissen, kümmern sich nicht um Grenzen, Herkunft oder Geburtsurkunden. Sie bevölkern und töten, was immer sich ihnen in den Weg stellt. (Dominik Barta, 20.3.2020)