So ein Virus ist aufgrund seiner Gesichtslosigkeit das ideale konzeptuelle Alien für die gesamte Nationalfamilie.

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Dass Sebastian Kurz die erste ÖVP-Generation repräsentiert, die nicht mehr ministriert hat, merkt man, wenn er sich bei seinen Mut-Schweiß-und-Tröpfchen-Ansprachen in Predigerpathos übt. Am 13. März hoffte er vor laufender Kamera auf eine "Wiederauferstehung unserer Systeme nach Ostern".

Würde er das christliche Glaubensbekenntnis kennen, aus dem er seine schiefen Bilder baut, wüsste er, dass alles, was um Ostern herum wiederaufersteht, sich nicht lange mit irdischem Alltagsquatsch aufhält, sondern direttissimo gen Himmel düst, um zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, zu richten die Lebenden und die Toten.

Nimmt man den verhinderten Ministranten Kurz also beim Wort, das er nicht versteht, so wird nach Corona nichts beim Alten bleiben. Das gibt Anlass zur Sorge, birgt aber wie jede historische Kippbewegung auch wunderbare Chancen in sich.

Wahn und Vernunft

Das Erschreckende und zugleich Faszinierende an Katastrophenszenarien ist nicht allein, dass alle ein bisschen überschnappen, sondern dass der Wahn wie ein Retrovirus auch die Vernunft befällt und deren genetische Codes dupliziert. Richtiges wird aus falschen Motiven behauptet, Falsches bedient sich richtiger Argumente.

Die Linke zum Beispiel ist gespalten in radikale Quarantänisten und Etatisten auf der einen und Corona-Verharmloser und Diktaturwarner auf der anderen Seite. Dass in jedem politischen Lager ähnliche Spaltungen existieren – rechte Virusrassisten contra Fans der natürlichen Auslese, liberale Etatisten gegen Boris Johnsons Masernparty zur Rettung britischer Wettbewerbsfähigkeit –, liefert den Linken einen reichen Fundus an gegenseitigen Vorwürfen.

Ob die Angst vor der tatsächlichen Gefährlichkeit des Virus nun überzogen ist oder nicht, die drakonischen Maßnahmen dagegen sind es nicht. Denn um wie viel höher die Todesrate bei Covid-19 als bei der Influenza ausfällt, scheint weniger relevant, als durch Verzögerung der Epidemie die meist unvorbereiteten und krankgesparten nationalen Gesundheitssysteme vor ihrer Überlastung zu bewahren.

Und die politischen Systeme vor der Peinlichkeit, ihre Distanz zu elementaren zivilisatorischen GrundStandards einzubekennen, die der Sozialstaat einmal gewährleistete und derjenige der Zukunft gewährleisten muss.

Es ist komplizierter

Manche Kritiker wie Giorgio Agamben scheinen nicht befähigt zu sein, ihre richtige Analyse von Biomacht und Ausnahmezustand ohne eine Verharmlosung der Corona-Gefahr zu formulieren. Leider ist es komplizierter. Was Türkis-Grün tut, ist grundvernünftig und problematisch zugleich. Eine neoliberale Regierung nimmt nicht aus Jux und Tollerei eine Rezession in Kauf und verzichtet auf ihren ideologischen Fetisch des Nulldefizits.

Demonstrationen sind ebenso untersagt wie Gottesdienste. Und wenn Sebastian Kurz verkündet, der Schutz älterer Menschen habe oberste Priorität, hat das schlicht mehr ethische Glaubwürdigkeit, als zugunsten der Kritik an Vater Staat Mutter Natur tausende Alte und Kranke mehr zu opfern. Um der Theorie vom Putsch per Notverordnung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, müssen ihre Vertreter das Virus zum medialen und politischen Konstrukt erklären. Dabei wäre das nicht notwendig.

Die schleichende Transformation der bürgerlichen Demokratien als Bewahrerinnen von Eigentum und Kapitalverkehr zu populistischen Führer-Demokraturen vollzieht sich seit Jahrzehnten, der Notstand bietet bloß eine praktische Gelegenheit, einige Etappen zu überspringen und das Modell des "Verantwortungsuntertanen" zu testen.

Dessen Gefahr besteht nicht in der vermutlich notwendigen Einschränkung von Grundrechten, sondern in der Gewöhnung daran, in jenem kollektiven Stockholm-Syndrom, das jetzt schon – der Lenz ist da – erste Symptome der Verliebtheit in den unwiderstehlichen Charme einer Souveränität zeitigt, "die über den Ausnahmezustand entscheidet" (C. Schmitt). Corona als Bad und Kurz als Good Cop arbeiten vorbildlich zusammen.

Keine Sentimentalität

So ein Virus ist aufgrund seiner Gesichtslosigkeit das ideale konzeptuelle Alien für die gesamte Nationalfamilie, es trägt weder jüdische noch islamische Züge, kommt weder von der Wall Street noch vom Kreml, ohne schlechtes Gewissen lässt es auch den progressiven Besserverdiener sich gutes Gewissen bezüglich nationaler Einheitsfront und Entmündigung machen. Ob berechtigt oder nicht, Angst ist der Lieblingsnektar aller autoritären Viren.

Papa prügelt Mama, kürzt uns Kindern das Taschengeld, bevorzugt seinen Sohn aus erster Ehe und jagt die Flüchtlingskinder vor der Tür mit der Schrotflinte davon. Doch Virus, Zombies und Aliens haben uns gezeigt, wie lieb wir Papa dann doch haben, denn schließlich sind wir Family ...

Nein, sind wir nicht. Der Staat hat schlichtweg die Verantwortung, seine Bewohner zu schützen. Das ist kein Grund zur Sentimentalität. Je weniger Gesellschaft, umso mehr muss Gemeinschaft verordnet werden. Wir sind kein Team, wie Kurz mit Engelszungen verkündet, sondern ein von willkürlichen Staatsgrenzen umfangenes Sammelsurium konträrer Interessen, die umso unversöhnlicher ausfallen, je mehr der Staat die Interessen weniger bevorzugt.

Selbsttherapeutische Bedürfnislosigkeit

Der wahre Horror des Coronavirus ist, wie sehr es – national, europaweit und im Verhältnis reicher zu armen Staaten – die volle Klassengrausamkeit und soziale Fragilität des neoliberalen Regimes entblößt. Während Macron aus Angst vor gelben Westen Zwangsverstaatlichungen in Aussicht stellt, entdeckt Kurz den Jungpfarrer in sich und predigt sorgfältigen Umgang miteinander – einer nationalen Familie, deren Mitglieder die Notverordnungen mit unterschiedlicher Härte trifft.

Was für die einen ein willkommener Kurs in selbsttherapeutischer Bedürfnislosigkeit ist, bedeutet für die anderen – ein Heer prekarisierter Selbstständiger, Arbeitsloser, Kleinunternehmer, Saisonniers, Leiharbeiter, Obdachloser – eine unmittelbare existenzielle Bedrohung und Betteln um Almosen, die für sie auf jeden Fall geringer ausfallen werden als bei denen, die too big to fail sind.

Wie exklusiv der Klub der nach Marktwert gestaffelten Anspruchsberechtigten ist, verrät Kurz, wenn er in seinen Kurzpredigten ausschließlich zu "lieben Österreichern und Österreicherinnen" spricht (während sich Van der Bellen immerhin an "alle in Österreich Lebenden" richtet).

Wie es sich anfühlt, Ausländer zu sein, davon bekommen jetzt alle eine lehrreiche Lektion, die einander im öffentlichen Raum als wandelnde Seuchenherde beargwöhnen, denn eine der Kollateraleffekte der Epidemie ist, dass sie keine Vorurteile kennt, die Vorurteile der Bedrohten aber brüderlich auf alle Mitmenschen verteilt.

Entgegen dem obligatorischen Nationalgesülze von Team und Community gibt die Krise das traurige Ausmaß der Vereinzelung der Menschen zu erkennen und Quarantäne und Ausgehverbot als Allegorie einer längst vollzogenen sozialen Verkapselung.

Viele haben jetzt viel Zeit

Sie entlarvt zudem den wahren Charakter der politischen Familienzusammenführung durch soziale Isolierung: Während die Polizei bereits eine Zusammenkunft von fünf Menschen im Park auflöst, bleibt die Ansammlung von Hunderten bis Tausenden in den Werkshallen der Produktion nicht lebensnotwendiger Güter in der Textilindustrie, bei Swarovski, auf den Großbaustellen und bis vor einigen Tagen bei VW erwünscht.

Fernbleiben von der Arbeit aus Angst vor Ansteckung gilt als Kündigungsgrund. Magna Steyr schickte kürzlich 6000 Arbeiter und Arbeiterinnen bis 30. März in Betriebsurlaub, nicht um ihre Gesundheit zu schützen, sondern aus "Mangel an verfügbaren Teilen für die Gesamtfahrzeugproduktion".

Die Maßnahmen dienen auch – bestimmt nicht geplant – als Waffenübung gegen ein weitaus gefährlicheres Virus. Sehr viele Menschen haben jetzt sehr viel Zeit. Auch zum Denken. Ein Erreger mit nicht zu unterschätzender epidemischer Potenz. Nein, nicht allein die Bildungsbürger sind damit gemeint, die ihre selbstgeernteten Zwiebeln nun noch langsamer schneiden und aus Dankbarkeit von ihren Balkonen die "Ode an die Freude" singen, ein Lied, zu dessen Melodie sich die Wertegemeinschaft Europa vor Kriegsflüchtlingen schützt.

Viel kolportiert ist die Corona-bedingte Erholung von Luftqualität und Natur, die sich partout in Rauchschwaden auflösen wird, wenn die Industrie zur Kompensation ihrer Verluste die Produktion wieder hochfahren wird und motorisierte Sardinenbüchsen wie eh und je die Menschen bei Arbeit und Urlaub abliefern.

Keim der Subversion

Doch der Keim der Subversion ist gelegt, wenn das Vogelzwitschern da draußen davon kündet, dass es auch ganz anders gehen könnte: nicht von kitschiger Eintracht mit der Natur, sondern davon, dass der Lärm der Wachstumsmaschine nicht den naturnotwendigen Soundtrack unseres Lebens vorstellt.

Wenn durch den Horror Vacui beengter Familienverhältnisse der stupide Ablauf von Hackeln und Shoppen als recht bescheidene Façon des eigenen Menschseins durchschaut wird und all die Talkshows, Serien, Gewinnspiele, digitalen Selbstdarstellungen, Lovesongs und automatisierten Mut-Schweiß-und-Tröpfchen-Ansprachen nicht mehr erquicken und ablenken können von den doch recht einfachen Fragen, warum die soziale Schere unterschiedliche Lebenserwartungen, unterschiedliche Stress- und Zufriedenheitsniveaus, unterschiedlichen Zugang zu medizinischer Versorgung, sozialer Infrastruktur und den Grundgütern des Lebens und folglich unterschiedlich starke Immunsysteme bedeutet; weiters wozu der ganze produzierte Plunder und seine Produktionsmaschinerie gut sind, wenn nicht zu ihrem eigenen tumorhaften Wachstum und der Wohlfahrt ihrer Profiteure, und warum es lachhaft wäre, wenn die höchste Produktivität aller Zeiten nicht die Wohlfahrt ausnahmslos aller garantieren könnte.

Zum Schluss die Auflösung der kniffeligen Corona-Dialektik: Die autoritären Maßnahmen sind notwendig, um die Ansteckung zu unterbinden. Zugleich sind sie aber praktische Manöver zur Unterbindung möglicher Konsequenzen dieser autoritären Maßnahmen. Der Schuss kann nämlich immer nach hinten losgehen.

Zum Beispiel dann, wenn der Ausnahmezustand nicht zur Festigung von Untertanengeist, Dankbarkeit und Patriotismus, sondern zu wahrer Demokratisierung führt. Wenn unsere "Systeme" irgendwann nach Ostern wiederauferstehen und dann flugs – zugunsten humanerer – zur Hölle fahren.(Richard Schuberth, 21.3.2020)