Der Glanz in den Augen des Hefehamsterers bedeutet: Die letzte Packung gehört mir.

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Der Einvernehmliche: Ihm kommt die Beschränkung auf die Häuslichkeit wie gerufen. Er nützt die Augenblicke des Außer-Haus-Seins dazu, Anschluss an seine Mitmenschen zu suchen. Der Einvernehmliche lebt vom knisternden Aufflackern einer unbezähmbaren Jovialität. Jede Wildfremde an der nächsten Ecke wird ihm auf Zuruf zur guten, alten Bekannten. Er sucht keine Zustimmung, er setzt sie voraus: Ja, die Regierung hat – nach allgemeinem Dafürhalten – richtig gehandelt! Der gegenteiligen Aussage würde er seine Zustimmung freilich ebenso wenig versagen: Nichts stellt der Einvernehmliche lieber her als Konsens mit beliebigen Nächsten. Leider begegnet er solchen zusehends seltener.

Die Abstandswahrerin: Da sie auch beim Besuch des Supermarktes ihr Antlitz hinter einer Atemschutzmaske verbirgt, obliegt es allein dem Glanz ihrer Augen, ihre Nächsten aus dem Gesichtskreis zu verbannen. Einzelne Kühlregale steuert sie auf kürzestem Wege an: Ihr Einkaufswagen gleicht dem Eisbrecher, mit dem sie das Packeis der Infizierung auf geradem Wege durchbricht. Gegenüber Zurufen stellt sie sich aus Prinzip taub. Der letzte, von ihr unfehlbar ausgespähte Sack Eiernudeln geht lange vor Erreichen der Griffweite in ihren alleinigen Besitz über.

Ein Logistik-Professor erklärt: So gäbe es genug Klopapier für alle.
DER STANDARD

Der Hefehamsterer: An den von ihm bevorzugten Mehlsorten schätzt er die Tendenz zur Teigwucherung. Von allen Gegenstandstypen des täglichen Bedarfs nimmt er zwei. Bricht er eine beliebige Packung an, wandert der Blick bereits, Beruhigung suchend, zur nächsten hinüber. Doch im Kopf ist und bleibt der Hefehamsterer ein unbeirrbarer Verfechter der Trinitätslehre: Zwei Exemplare ein- und desselben Bedarfsartikels sind bestimmt eine feine Sache. Doch erst mit dem dritten, obenauf gestapelten gerät die bangende Psyche in den Modus einer im voraus empfundenen, tiefen Befriedigung.

Der ferial Abschüssige: Für ihn bildet der Ausbruch aus der häuslichen Isolation ein primär sportives Anliegen. Wäre sein Mountainbike ein – wenn auch dürrer – Klepper, er gäbe ihm ohne Unterlass die Sporen. So teilt er das immer trockener werdende Meer der Ausflügler mit pfeifenden Speichen. Seine langen Schussfahrten hügelabwärts verfügen demgemäß über einen empfindlichen Schönheitsfehler: Sie bringen ihn dem ungeliebten Ziel der eigenen vier Wände rascher näher, als ihm lieb sein kann. Also bricht er anderntags neuerlich auf, früher im Morgengrauen, um noch höhere Gipfel zu erstrampeln. Die Unstetheit seiner Existenz verhindert das Zustandekommen derjenigen menschlichen Ansammlungen, die Bundesminister Anschober derart grundlegend zuwider sind.

Der Heim-Catwalker: Für ihn gibt der Raum vor der Computerkamera eine ausreichend großes Gehege ab, um sich vor der zugeschalteten Worldwide-Web-Gemeinde zu produzieren. Er versteht sich auf die Kunst des Auf-dem-Kamm-Blasens. Oder er erheitert andere, die ebenso häuslich unfrei sind wie er, mit dem Vogelflug seiner ungezähmten Gedanken. Der Heim-Catwalker gewinnt unversehens alle Herzen durch sein Bestreben, die unsichtbaren Fesseln der Immobilität durch bloße Willensleistung von sich abzustreifen. Sein Kunststück ist ein rares, mitunter auch ein digital verwackeltes: Er möchte zugleich Zylinder und Kaninchen sein, Geschenk und Gönner in ein- und derselben Person. Der Heim-Catwalker sorgt für gute Laune und lässt seine Zuschauer darob vergessen, wie bänglich allen gemeinsam zumute ist.

Die Selbstschenkerin: Unter ihr müsste man sich dieser Tage eine Ordnungshüterin vorstellen. Ihr obliegt als Polizistin die wenig vergnügliche Pflicht, die Menschen in ihrem natürlichen Freiheitsdrang zu bremsen. Sie lebt gewissermaßen von den Geschenken, die sie (in den Parkanlagen und Naherholungsgebieten) von den Staatsbürgerinnen zurückholt: das Recht auf Versammlungsfreiheit. Wie um die Vorläufigkeit der von ihr vorgenommenen Konfiskation zu unterstreichen, trägt sie durchsichtige Einweghandschuhe. Aus diesen weggeschlossenen Handflächen erwarten wir uns, nach überstandener Krise, die Rückgabe unserer kostbarsten Freiheitsrechte. Die Selbstschenkerin grast die Parks nach Menschen ab, die voneinander nicht lassen wollen. Ihr Fingerzeig ist jedesmal ein anderer: So viele Personen, so viele verschiedene Eigenheime gibt es der Tendenz nach.

Der Abzähler: An Genauigkeit der digitalen Buchführung übertrifft er jeden Corona-Liveticker. Die Ausbreitung der Pandemie verfolgt er besorgt, jedoch mit der akribischen Miene des Naturkundlers. Im Abzähler verkörpert sich zuletzt der Typ des Generalstäblers. Der war einst darauf trainiert worden, das Wohl und Wehe vieler Hunderttausender durch das permanente Umstecken signalroter Fähnchen sinnfällig zu machen. Moderne Generalstäbler sind in unseren Breiten der Kriege entwöhnt. Seine Charaktermaske hat der Abzähler unter der Hand weitergegeben an den Quotenzähler: Dieser gewahrt, in treuer Stellvertretung von uns allen, die Außerkraftsetzung von Wachstumsverboten. Er muss mit unfehlbarer Besorgnis zur Kenntnis nehmen, wie die Zahl der Infizierten steigt und steigt. Menschen, die unter normalen Umständen vor jeder einfachen Schlussrechnung zu kapitulieren pflegen, führen plötzlich mit großer Selbstverständlichkeit Wörter wie "exponentiell" im Mund. Die Krise schafft ein Heer von Abzählern; unter diesen haben sämtliche Milchmädchen Zuflucht genommen, und in ihrem Gewühle findet man auch Adam Riese und Eva Zwerg.

Die Desinfizierte: An ihre Hände gelangt nichts Unüberprüftes; würde sie ihre Kräfte anderweitig erhalten können, sie lebte allzu gerne nur von Luft und Liebe allein. Von der guten, alten Kernseife führt ein immer schmäler werdender Pfad zum industriell abgepackten Flüssigdesinfektionsmittel. Die Desinfizierte spürt in der wachsenden Frequenz des Hausgebrauchs, wie ihre Hände verdinglichen. Zuletzt erscheinen sie ihr schlüpfrig glatt wie die Kolben einer beliebigen Maschine. Am Horizont der hygienischen Praxis taucht die uralte Idee endgültiger Entmaterialisierung auf: Wir geben einander (horribile dictu!) nicht mehr die Hände, sondern schlüpfen möglichst unbemerkt und stressfrei von einem menschlichen Leib in den nächsten. (Ronald Pohl, 22.3.2020)