Es gibt wenig, das einen stärkeren Zustand der geistigen Präsenz bei mir hervorruft, als ein Stromausfall. Gezwungen zu sein, ein Buch aufzuschlagen, das seit dem Kauf nur als Staubfänger dient. Das Backrohr zeigt keine Uhrzeit an, die Bildschirme sind schwarz, der kleine rote Punkt am Receiver ist erloschen.

Fast alles finster.
Foto: APA/AFP/FEDERICO PARRA

Ein Stromausfall fragt mich: "Und jetzt?"

Ist es draußen bedeckt, ziehe ich mich in mein Zimmer zurück. Ich liege auf meinem ungemachten Bett, die Decke ist noch warm von der letzten Nacht. Es klopft ein erster Regentropfen an die Fensterscheibe, von den milchigen Wattewolken gefallen, an mein Guckloch in die Welt. Beim Aufprall teilt er sich und bevor ich mich zu meinem Buch zurückdrehen kann, prasselt ein feiner Nieselregen herab, der den ersten Tropfen unter vielen verschwinden lässt.

Ein Stromausfall lässt mich Menschen erkennen.

Es ist Sonntag, ich bin 13 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder irrt durchs Haus, gelangweilt und genervt von meiner Mutter, die ihn ein weiteres mal beim Jenga-Spielen geschlagen hat. Ein dumpfes "Oida" hallt durch die Holztüre in mein Zimmer, ich schmunzle. Mein Nokia-Handy schaltet sich desinteressiert ab, ich spüre förmlich den letzten Tropfen Akku meine Finger hinunter rinnen. Ich starre aus dem Fenster, der Nachbar holt seinen durchtrieften Kater aus seinem Schlamassel ins warme Haus.

Ein Stromausfall limitiert die Möglichkeiten, meine Zeit mit sinnvollen Dingen zu verbringen.

Plötzlich schätze ich mein altes Mini-Batterieradio, das seit dem letzten Happymeal-Konsum in der zweiten Lade des braunen Regals liegt. Es war mir immer zu schade, es rauszuwerfen. Ich kletzle zwei halbleere AAA-Batterien aus den TV-Fernbedienungen und platziere sie sorgfältig im Batteriefach des Radios. Da ertönt schon eine verrauschte Stimme aus den kleinen Lautsprechern. Ich kann die Wörter kaum ausmachen, eine Frau spricht über Politik in Amerika. Ich sauge jede Silbe auf, wie ein Schwamm. Nach zehn Minuten geht auch das Batterieradio lautlos ein.

Photo by Antonio Jiménez Alonso (freeimages.com)

Ein Stromausfall lässt mich Freundschaft schätzen.

Die graue Sonne guckt mir vom Wald aus beim Nintendo-Spielen zu. In "Animal Crossing" grabe ich Birnen ein, damit beim nächsten Mal, wenn meine Klassenkameradin aus der Unterstufe mein virtuelles Dorf betritt, genug Birnenbäume für uns beide da sind. Dann können wir die Birnen nämlich um gutes Geld verkaufen. Weiters zupfe ich das Unkraut in meinem Garten aus. Wäre ja peinlich, wenn sie meinen virtuellen Garten in einem so ungepflegten Zustand sehen würde.

Stromausfälle lassen mich aufwachen.

Ich sehne mich oft nach Stürmen und Gewittern. Wenn ich an solchen Tagen aufwache, blickt mir der verregnete Tag in die Augen und fragt: "Was jetzt?"

Wenn die Lampen nicht leuchten, der Wasserkocher nicht kocht, der Papa ratlos ist und die Tauben vor meinem Fenster zu aufgeplüschten Bällen mutiert sind, dann höre ich diese Frage. Und gottseidank habe ich keine Antwort darauf. (Lukas Zeiler, 29.03.2020)

TED

TED-Talk zum Thema "Slow Living".

Lukas Zeiler ist Blogautor für TEDxVienna und studiert Digital Media Production an der FH St. Pölten. 

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