Hoch über dem Wienfluss verliert ein ruhig dahingleitendes Flugzeug im Landeanflug innerhalb weniger Sekunden hunderte Meter an Höhe. Wer hier unter einer der Haupteinflugschneisen der Stadt lebt, bemerkt die normalerweise im Minutentakt einfliegenden Maschinen nicht mehr. An diesem Tag bleibe ich stehen und blicke in einen strahlenden Himmel, den der Pilot heute nur mit der Sonne teilen muss. Nach ihm kommt keiner mehr, und auch vor ihm war stundenlang nichts.

Nicht nur zehntausend Meter über dem Erdboden, sondern auch unten auf den Straßen Wiens ist Ruhe eingekehrt. Selbst in dieser die Stille vergötternden Stadt hat diese eine bisher unbekannte Dimension erreicht. Gleichzeitig mit dem Abschwingen des Klanges legt sich eine dämpfende Tatenlosigkeit über das eigene Handeln.

Noch vor wenigen Wochen war nichts unmöglich: Innerhalb von vierundzwanzig Stunden schien fast jeder Punkt der Erde erreichbar. Wir aßen in Paris Croissants zum Frühstück und schlürften zum Abendessen Nudelsuppen in Bangkok. Wir begannen den Tag mit einer alten Liebschaft in Wien, um sie mit einer auf dem Handy kennengelernten Affäre in Rio de Janeiro zu beenden. Nun ist alles anders: Es gibt keine Flugzeuge mehr, in die wir steigen können. In der häuslichen Isolation lassen sich keine Affären küssen. Übers Wochenende nach New York sausen, um dort dieselben Dinge einzukaufen, die wir sonst auch auf der Mariahilfer Straße bekommen, ist unmöglich geworden. Doch anstatt vor Langeweile zu verzweifeln, wird diese Beraubung aller Optionen zur Befreiung.

Foto: APA/BARBARA GINDL

Minutenlang starrt mein Sohn eine Blume am Wegrand an. Plötzliche verstehe ich, was er an ihr so spannend findet. Oder daran, begeistert einen Stein nach dem anderen ins Wasser des Wienflusses zu werfen. Wo ich früher nur einen schäbigen Kanal wahrnahm, entdecke ich heute mehr als bei meiner letzten Asienrundreise: Pflanzen, Bäume, Gräser und Tiere, die ihre Köpfe nach einem langen Winter emporrecken. Die erstaunt Luft einatmen, die ganz anders riecht, nämlich einfach nur nach Luft, auch sie hat sich ihrer Ballaststoffe entledigt. Der wenige Meter schmale Strom ist nicht der schönste Fleck Wiens – aber er ist der schönste Fleck in meiner plötzlich eng begrenzten Welt. All die Sehnsuchtsorte, all die breiteren, schöneren, blaueren Flüsse und Meere da draußen existieren nicht mehr. Heute, morgen und nächste Woche gibt es nichts weiter zu tun, als hierher zu kommen und jeder für sich ein paar Schritte zu gehen.

Nach langem kommt mir ein Spaziergänger entgegen, und das in Wien Undenkbare geschieht: Obwohl wir uns nicht kennen, lächeln wir einander freundlich an. Während ich umdrehe und wieder nach Hause gehe, frage ich mich, ob das nun die neue Welt ist. Ob wir kurz vorm Weltuntergang noch einmal eine allerletzte Chance haben, es besser zu machen. Wir alle, lasst es uns besser machen. (Andreas Rainer, 24.3.2020)