Nicht nur unser Land, die ganze Welt befindet sich in einer Ausnahmesituation, wie wir sie, jedenfalls die meisten von uns, bislang nicht erlebt haben. Österreich hat bis jetzt gut und schnell agiert. Als eine der ersten Maßnahmen wurden nicht nur Universitäten, sondern auch Schulen geschlossen; es gab Vorgaben für den Unterricht zu Hause, und an den Schulen läuft seit einer Woche ein Notbetrieb für Kinder, die nicht daheim betreut werden können. Eine Woche später ist auch fix, dass die Matura verschoben wird. Das alles verdient zweifellos Anerkennung. Angesichts derart großer Herausforderungen überlegt man es sich sehr gut, Kritik anzubringen, gerade weil die Entscheidungen auf einer unsicheren Ausgangslage getroffen werden, die schon in Kürze eine ganz andere sein kann. Ich möchte es dennoch versuchen.

Foto: Reuters/Kai Pfaffenbach

Wie wir inzwischen alle wissen, gibt es ein besonders hohes Maß an Bildungsungerechtigkeit, sozialer Aufstieg via Bildung ist schwerer als in den meisten vergleichbaren Ländern. Strukturelle Besonderheiten wie die frühe Segregation im Alter von zehn Jahren tragen das ihre dazu bei. Auch die Elternmitarbeit in der Schule wird bei uns vorausgesetzt – die "Eltern in die Pflicht nehmen" heißt es so (un)schön. Kinder, die das Pech haben, zu Hause keine Unterstützung für die Schule zu haben, Kinder, die nicht einmal einen Arbeitsplatz für ihre Hausaufgaben haben, Kinder, deren Eltern keinen Internetzugang haben und auch der deutschen Sprache nicht mächtig sind – all diese Kinder trifft es jetzt besonders hart.

Mehr als gute Lerntipps 

58 Prozent der Kinder, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, leben in extrem überbelegten Wohnungen. Wenn fünf Personen auf 50 Quadratmetern ohne Internet leben, dann brauchen Kinder aus solchen Familien mehr als gute Lerntipps von Schulpsychologinnen  und Schulpsychologen oder elektronische Lernmaterialien. Auch die engagiertesten Lehrerinnen und Lehrer geraten jetzt vielfach an ihre Grenzen, wie in diversen Internetforen nachzulesen ist. Ihre Grenzen sind die Grenzen der Kinder aus diesen Familien. Die Eltern haben verstanden, dass die Kinder daheim bleiben sollen, aber so manche verstehen nicht, dass die Kinder jetzt lernen sollen. Sie sprechen kein Deutsch oder sind Analphabetinnen und Analphabeten. Sie sind alleinerziehend und müssen tagsüber arbeiten. Und so weiter. Pech gehabt.

Könnte es sein, dass andererseits  jetzt noch mehr Kinder in den Genuss kommen, dass ihre Eltern ihnen die Hausaufgaben abnehmen, um so die Chancen auf gute Noten zu erhöhen? Wer kann das beurteilen? Was tun mit Pubertierenden, die sich weigern, mit ihren Eltern zu lernen, gegen die sie gerade rebellieren? Fragen über Fragen. Dennoch bleibt es dabei: Die schulische Arbeit von zu Hause aus wird in die Gesamtnote einfließen. Schon am 16.3. beharrte der Minister, trotz beharrlicher Nachfrage des Interviewers darauf: "So steht es in der Leistungsbeurteilung drinnen – auch für den Ausnahmezustand." Immerhin: Den Lehrerinnen und Lehrern sei es aber freigestellt, ob sie es miteinbeziehen oder nicht. Was vermutlich gut gemeint war, könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass Kinder, die jetzt unter denselben Voraussetzungen lernen müssen, je nach Lehrkraft ein Schuljahr verlieren oder eben auch nicht. Auch aus Sicht der Lehrerinnen und Lehrern, die nebenbei gesagt derzeit übrigens Großartiges leisten, ist das keine zufriedenstellende Antwort. Was sie jetzt dringend brauchen, ist Klarheit.

Da an den Noten auch Lebenschancen hängen, ist Klarheit in Fragen der Benotung gerade jetzt gefragt. Der Minister hat natürlich Recht, indem er das dringlich Anstehende vorrangig in Angriff nimmt, und das betrifft die Regelung der Matura. Die Verschiebung der Matura wurde jetzt beschlossen, damit zusammenhängende Änderungen wurden bekanntgegeben. Nun kann – und muss! – man sich so schnell wie möglich der Situation des häuslichen Unterrichts widmen und dabei vorrangig Fragen der Benotung. Wie wäre es, wenn man bis auf weiteres nur das Bemühen positiv beurteilen würde und nicht erbrachte Leistungen zwar vermerkt, aber nicht in die Noten einbezieht? Dann wären die Versäumnisse dokumentiert und könnten später nachgeholt werden, würden aber nicht zu ungerechter Benachteiligung führen.

Unterstützung für Eltern

Wie wäre es außerdem, wenn alle Kinder, deren Eltern nicht in der Lage sind, in dieser schwierigen Situation ihren Kindern in schulischen Belangen zu helfen, ausreichende zusätzliche Unterstützung bekämen? Das könnten Lehrerinnen und Lehrer sein, die sich verstärkt einzelnen "Problemkindern und -jugendichen" widmen. Die Schulen wissen genau, um welche Kinder es sich handelt. Dazu brauchen die Betroffenen funktionierendes Internet und Geräte für Zuhause. Wie wäre es, wenn wir dafür unbürokratisch und schnell Gelder zur Verfügung stellen würden? Da sind auch die Bildungsdirektionen gefragt. Zivilgesellschaftliche Initiativen sind ohnehin bereits angelaufen.

Abschließend: Die Vorgängerregierung hat mehrere Neuerungen eingeführt, darunter die umstrittenen und von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abgelehnten Deutschförderklassen, die Wiedereinführung des Sitzenbleibens und verpflichtende Ziffernnoten ab der zweiten Klasse Volksschule. Da gerade in der Volksschule viel mit Papier gearbeitet wird und in der jetzigen Situation Kinder auf die Unterstützung der Eltern mehr als je angewiesen sind, wirken sich diese Maßnahmen auf Kinder aus mehrfach benachteiligten Haushalten besonders negativ aus. Wenn man diese gesetzlichen Regelungen bis auf weiteres aussetzen würde, wäre vielen geholfen. Es wäre mehr als nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Herr Minister Faßmann, springen Sie über Ihren Schatten! (Heidi Schrodt, 24.3.2020)

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