Wird Ungarn der erste diktatorisch regierte Mitgliedsstaat der Europäischen Union sein? Bisher galt das in zehn Jahren durch die Fidesz-Regierung aufgebaute System mit Ministerpräsident Viktor Orbán, dem "starken Mann" an der Spitze, als ein "Hybrid-(Misch-)Staat": weder Demokratie noch Diktatur. Der Politologe András Körösényi beschrieb das Orbán-Regime als eine "Führerdemokratie" mit "autokratischer Machtausübung in demokratischem Rahmen" Schärfer formuliert: ein Einparteienstaat mit "demokratischer Ausschmückung", so Michael Ignatieff, der kanadische Politologe und Rektor der zum Teil bereits aus Budapest nach Wien vertriebenen Central European University.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
Foto: EPA/Tamas Kovacs

Der am Freitag vorgelegte Gesetzesentwurf beendet die "Ausschmückung" und besiegelt den Übergang zu einer unkontrollierbaren Autokratie. Abgelehnt von allen Oppositionsparteien, von allen unabhängigen Rechtsexperten und den NGOs, also von der Zivilgesellschaft, wird die Regierung trotzdem mit ihrer Zweidrittelmehrheit das Gesetz in acht Tagen endgültig beschließen. Dieses erlaubt Orbán, für eine unbegrenzte Zeit mit Notverordnungen zu regieren, das Parlament auszuschalten und alle Wahlen abzusagen. Der oberste Staatsanwalt Peter Polt (seit einem Vierteljahrhundert Diener des Regierungschefs und im Oktober durch die Fidesz-Mehrheit für weitere neun Jahre bestätigt!) erhielt noch mehr Kompetenzen und kann Haftstrafen bis zu fünf Jahren für die Verbreitung von "Falschnachrichten" und bis zu acht Jahren für Verstöße gegen die Notstandsregelungen verhängen. Mit seiner bewährten und in der Flüchtlingskrise 2015 erfolgreich angewendeten Methode – mit dem Hinweis auf eine Ausnahmesituation außerordentliche Maßnahmen durchzusetzen – handelt der Ministerpräsident im Sinne Carl Schmitts, dass Politik die Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden sei: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Orbán kündigte am Freitag im Radio an: "Zu den lebenswichtigen Firmen habe ich Militärstäbe beordert, falls die Übernahme der Aufsicht oder der Leitung notwendig werden sollte, dann müssen dort Soldaten und Polizisten bei der Hand sein." In den Städten sieht man Militärpatrouillen.

Viktor Orbán, der am 23. Mai seinen 57. Geburtstag feiert, ist schon bisher der nahezu uneingeschränkte Herrscher gewesen. Warum will er praktisch diktatorische Vollmachten? Dieser zutiefst zynische, mit allen Wassern gewaschene Berufspolitiker mit einem unheimlichen Machtinstinkt baut vor. Die überraschende Wahlniederlage der Regierungspartei im Oktober 2019 bei den Kommunalwahlen in Budapest und einigen anderen Städten galt für den gerissenen Machtmenschen als Anzeichen einer möglichen Niederlage bei den im April 2022 fälligen Parlamentswahlen. Jeder Ungar weiß, dass das Gesundheitssystem (wie auch das Bildungswesen)in einem miserablen Zustand ist. Infolge einer akuten Krise könnten gemeinsame Kandidaten der (heute gespaltenen) Opposition in den 106 Wahlbezirken die Regierungspartei schlagen und eine Wachablöse herbeiführen. In diesem Fall würde eine beträchtliche Anzahl der Schlüsselfiguren des (nach Bulgarien) korruptesten EU-Staates wohl früher oder später hinter Gittern landen. (Paul Lendvai, 23.3.2020)