Rainer Predl hat es tatsächlich getan. Und auch geschafft. Wobei: Wer Rainer Predl kennt, hat keine Sekunde daran gezweifelt, dass er das genau so durchziehen würde, wie er es angekündigt hatte: 70 Kilometer zu laufen wäre für den 30-jährigen Niederösterreicher an sich nix Besonderes. Aber das Wie & Wo dieses Laufes ist sogar in Predl'schen Dimensionen außergewöhnlich. Und das heißt was. Denn Rainer Predl hat schon bisher einiges an skurrilen Lauf- und Dauerleistungen (etwa einen Weltrekordversuch im Sieben-Tage-Nonstop-Laufband-Laufen oder 100 Kilometer – am Rad – im Kreisverkehr) hingelegt.

Foto: ©www.rainerpredl.com

Denn vergangenes Wochenende setzte der Lasseer auf seine bisherigen Verrücktheiten einen drauf: Er lief rund um den Küchentisch. Und zwar so lange, bis er 70 Kilometer in den Beinen hatte. In Summe, Predl hatte den Tisch genau vermessen, waren das 11.024 Runden zu je 6,35 Meter. Dafür brauchte der Extremsportler 12 Stunden 57 Minuten und 2 Sekunden. Inklusive der drei nicht eingeplanten Übelkeitsstopps infolge des Drehwurms, der mich schon befiel, als ich Rainer kurz per Livestream "verfolgte".

Foto: ©www.rainerpredl.com

Ganz grundlos oder für das Buch der Rekorde war der Spinner aus Niederösterreich (ich meine "Spinner" hier positiv) allerdings nicht gelaufen, bis er, äh, "zurückjausnete": Eigentlich hätte am Wochenende der Lasseer Benefizlauf stattfinden sollen. Bei dem starten traditionell Weit- und Ultraläufer und -innen, um zugunsten des Sterntalerhofes sechs Stunden nonstop zu rennen – und dafür auch noch zu zahlen.

Doch dass der Lauf aus den omnipräsenten Corona-Gründen abgesagt werden musste, konnten und wollten Predl und etliche andere Läuferinnen und Läufer nicht hinnehmen – und organisierten einen "virtuellen Benefizlauf": Wer wollte, sollte laufen, wo es eben ging. Sei es im Hinterhof, im eigenen Garten – oder rund und den Küchentisch.

Foto: screenshot

So seltsam die Idee auch klang, so viel Anklang fand sie. In einer eigens gegründeten Facebook-Gruppe wurde zuerst eifrig die Werbetrommel gerührt – und dann, ab Samstagabend, nach dem Lauf, ebenso eifrig berichtet.

Mit einem Augenzwinkern und dem Bewusstsein, dass man durchaus einen leichten Hau haben muss, um zum Beispiel – so wie der Korneuburger Dauerläufer René Kun – den eigenen Garten zuerst auszumessen und dann stundenlang zu berennen.

Foto: ©Run Rene Kun

Oder wie die Wienerin Naddy M., die zum Erstaunen der Nachbarn im Innenhof eines Wohnhauses zwischen Garagentoren und Hauseingängen einen Halbmarathon hinlegte, dafür dann auch noch für jeden (vermutlich ziemlich öden) Kilometer bezahlte und die Summe am Schluss auch noch aufrundete.

Oder … Schauen Sie einfach in die einschlägige Facebook-Gruppe.

Foto: Naddy M.

Dabei hätten alle virtuellen Benefizläufer ja ohnehin die Möglichkeit gehabt, anderswo zu laufen. Draußen nämlich. (Tiroler und Bewohner anderer Quarantäneregionen einmal ausgenommen.) Denn dass Bewegung an der frischen Luft gesunden (!) Menschen grundsätzlich gut tut, dass sie nicht nur fit hält, sondern auch Stress und Frust abbaut und dass das Durchlüften des Kopfes gerade jetzt hilft, Lagerkoller zu vermeiden, ist ja unbestritten.

Foto: thomas rottenberg

Und wird sogar dort gelebt, wo es schon lange nicht mehr möglich ist, sich im freien einfach "zum Spaß" zu bewegen: So skurril das kurze Video, das eine Kollegin aus Rom geschickt bekam, auf den ersten Blick auch sein mag, so stark ist es auf den zweiten. Der Läufer (oder die Läuferin) auf dem Dach ist ein Gleichnis: Er oder sie will sich nicht kleinkriegen lassen. Tut etwas für sich – und doch so, dass es jenen Regeln entspricht, die die Gemeinschaft schützen sollen. So unbequem die auch sein mögen.

Foto: Josefa-Maria Weinberger

Hierzulande haben wir es da ja (noch) einfach. Wir dürfen, können und sollen uns bewegen, wenn auch unter bekannten Bedingungen: mit Sicherheitsabständen. Alleine. Oder höchstens zu zweit in Begleitung von Menschen aus dem eigenen Wohn- oder Familienverband. Und auch dann so, dass wir uns weder leistungsmäßig die Kante geben, noch auch nur annähernd in Situationen kommen können, die dann Rettungskräfte oder medizinisches Personal binden.

Foto: thomas rottenberg

Es klingt geradezu grotesk, wenn der Alpenverein inständig darum fleht, jetzt doch bitte keine Ski- und Bergtouren zu unternehmen. Oder der Radverband dringend davon abrät, draußen auch nur annähernd sportlich unterwegs zu sein – und ja, auch an jenen Tagen, an denen es schon frühlingshaft mild war: Das tut weh. Sehr weh, ist aber, ich wiederhole bewusst, was ich letzte Woche geschrieben habe, zumutbar: Wenn es Profisportler schaffen, sollten das Normalos auch hinkriegen.

Foto: thomas rottenberg

Das gilt auch fürs Laufen. Ich selbst wohne derzeit am Land. In der niederösterreichischen Pampa, wo einander Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Das Dorf und die dazu gewucherten Speckgürtelhäuser sind normalerweise während der Woche tagsüber reichlich unbewohnt. Jetzt ist das anders.

Foto: thomas rottenberg

Aber jetzt, wo nicht nur viele Pendler auch tagsüber hier sind, sondern auch etliche Wiener Familien, die ihren Kindern Kleingartenluft gönnen wollen, ist hier kaum was los: Es ist keine Hexerei, auf den endlosen, faden Feldwegen zwei oder mehr Meter Abstand einzuhalten. Vorausgesetzt, man sieht oder trifft überhaupt jemanden: Meistens fühlt es sich ein bisserl an, als wäre man in Thomas Glavinics "Arbeit der Nacht" gelandet.

Foto: thomas rottenberg

So laufen zu müssen ist auf Dauer einsam. Aber so laufen zu können ist, ich weiß es eh, auch ein Privileg: Als ich einmal nach Wien fuhr, um ein Fahrrad zum Einkaufenfahren und Tech-Hardware für das sonst allzu rudimentär ausgestattete Homeoffice zu holen, sah ich in der Stadt mehr Jogger als je zuvor. Viele in Gewand und Schuhen (und mit Bewegungsabläufen), die zeigten, dass diese Menschen sonst nicht oder kaum laufen. Das deckt sich mit Erzählungen aus Wien und anderswo. Sogar in der "New York Times" wird dieses Phänomen in den Jedermensch-Laufkolumnen beschreiben.

Foto: thomas rottenberg

Und natürlich laufen die Leute dann an Orten und zu Zeiten, in denen es sich für sie gut anfühlt – und erst recht, sobald das Wetter auf "gut" schaltet.

No na: Viele haben jetzt Zeit. Zu viel Zeit. Und die Decke fällt sogar mir, hier am Land mit Garten und richtig viel Arbeit, auf den Kopf.

Foto: thomas rottenberg

Dass es in Wien auf der PHA, am Donaukanal oder der Insel dann "wurlt", dass an Seepromenaden angeblich Volkslauf- und Volkswandertag ist, sobald die Sonne rausblitzt, ist klar.

Bei jedem Einzelnen und für jede Einzelne ist das absolut nachvollziehbar und richtig – und wird im Rudel dann trotzdem ein Problem: Nicht jeder kann sich die Zeit so frei einteilen wie etwa meine Freundin Monika. Die rennt derzeit um zwei in der Nacht durch Wien. Und nicht jede kann den Ort so wie ich frei wählen: irgendwo im Nirgendwo.

Foto: thomas rottenberg

Lösung? Ich habe keine. Was sozial, psychohygienisch und für die Individualgesundheit gut, wichtig und richtig ist, ist epidemiologisch für die große Gruppe kontraproduktiv.

Weil viele jetzt genau das tun, was man sonst so oft vergeblich von ihnen verlangte, "an die Luft gehen" nämlich, leitet das derzeit sehr rasch Gegenreaktionen von Staat und Obrigkeit ein: Bewegungseinschränkungen. Versammlungsverbote. Ausgangssperren. Das versteht derzeit (fast) jeder. Und befürwortet es auch – solange es nur die anderen und deren Verhalten betrifft.

Foto: thomas rottenberg

Antworten, die für alle immer und überall gelten, zu geben war immer schon schwer bis unmöglich. Und ist es heute mehr denn je – obwohl just in solchen Zeiten die Sehnsucht nach klaren, binären Ja/ Nein-Ansagen, nach definitiven Richtlinien größer als sonst.

Ich kann nur sagen: Laufen Sie. Bewegen Sie sich. Lüften Sie Ihren Kopf und Ihren Körper – ich, Sie, wir alle brauchen das heute ganz besonders. Jammern und Verzweifeln bringt nichts: Machen Sie das Beste aus der Situation.

Foto: thomas rottenberg

Denn sogar dieses Glas ist halb voll: Suchen Sie Nischen. Zeitlich. Räumlich. Organisatorisch. Motivatorisch. Und verlassen Sie dafür jene Komfortzonen, in denen sich auch andere, nachvollziehbar und zu Recht, bewegen und wohlfühlen würden. Sonst verlieren wir auch das, was wir noch haben.

Ich renne gegen meine Angst, gegen meine Ohnmacht und gegen meine Einsamkeit deshalb Bahngleise und Feldwege im Nirgendwo ab. Rainer Predl umrundet seinen Küchentisch. Dazwischen liegt immer noch ein großes, weites Feld an Möglichkeiten.

Und egal, ob der Blick über den Küchentisch oder zum Horizont schweift, bleibt der Fokus auf das gerichtet, was zählt: die Hoffnung. (Tom Rottenberg, 25.3.2020)

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