Gerold Felician Lang ist HIV-Experte, Dermatologe und Vizepräsidenten der Österreichischen Aids-Gesellschaft.

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HIV-Infizierte, deren Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt, haben kein erhöhtes Risiko bei einer Infektion mit Sars-CoV-2.

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Zwölf Fragen an den in Wien niedergelassenen HIV-Experten, Dermatologen und Vizepräsidenten der Österreichischen Aids-Gesellschaft Gerold Felician Lang zu Sars-CoV-2 und HIV.

STANDARD: Haben Menschen mit einer HIV-Infektion ein erhöhtes Risiko bei Covid-19?

Lang: Es gibt kein Ja oder Nein als Antwort. Man muss sich den einzelnen Patienten genau anschauen. Wird jemand frühzeitig, das heißt, solange das Immunsystem noch relativ kräftig ist und folglich die CD4-Zellzahl noch hoch ist, mit HIV diagnostiziert, früh therapiert und hat er daher eine Viruslast unter der Nachweisgrenze, so haben diese Patienten kein erhöhtes Risiko bei einer Infektion mit Sars-CoV-2 im Vergleich zu HIV-negativen Personen. Sind die Betroffenen zudem eher jung und ohne Begleiterkrankungen, so ist ein schwerer Verlauf nicht zu erwarten. HIV-Patienten dagegen, die erst spät die Diagnose erhielten und bereits einen schlechten Immunstatus haben, haben durchaus ein erhöhtes Risiko bei einer Infektion mit dem Coronavirus. Das gilt auch für Patienten, deren HIV-Viruslast nicht unter der Nachweisgrenze liegt. Ihr Immunsystem ist voll damit beschäftigt, sich um das HI-Virus zu kümmern. Bei erschöpftem Immunsystem besteht das Risiko eines deutlich schwerwiegenderen Verlaufs einer Coronavirus-Infektion.

STANDARD: Welche Verhaltensmaßnahmen empfehlen Sie insbesondere bei fortgeschrittener HIV-Infektion?

Lang: Das sogenannte Social Distancing ist unverzichtbar. Wer eine stark fortgeschrittene HIV-Infektion hat, der muss sich regelrecht abschotten. Die Empfehlung heißt: Nicht arbeiten gehen, sondern krankschreiben lassen und die Wohnung nicht verlassen.

STANDARD: Ist es derzeit ratsam, Arzttermine wahrzunehmen?

Lang: Das hängt von den jeweils in den Ordinationen getroffenen Maßnahmen ab. Ein Zusammentreffen mit anderen Patienten oder ungeschütztem Personal muss zur Sicherheit der Patienten unterbleiben, das Ansteckungsrisiko wäre sonst zu hoch. Wir können in unserer Praxis nur dank unserer aufwendigen Schutzmaßnahmen eine Normalversorgung durchführen. In den Spitalsambulanzen läuft derzeit nur eine Notversorgung, um möglichst wenige Patienten vor Ort zu haben. Wenn jemand eine sehr stabile HIV-Infektion ohne Begleitprobleme hat, dann gibt es keine Notwendigkeit, derzeit eine Ambulanz aufzusuchen. Die Patienten können sich in den Kliniken melden, um Rezepte per Post zu erhalten. Die erforderlichen Routineuntersuchungen können später nachgeholt werden.

STANDARD: Haben das HI-Virus und das Coronavirus Ähnlichkeiten?

Lang: Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass bei beiden die genetische Information nicht als DNA-Doppelstrang, sondern als RNA-Einzelstrang vorliegt. Ansonsten haben sie nichts miteinander zu tun. Das zeigt sich etwa an der Vermehrung: HIV baut sein genetisches Material dauerhaft in das genetische Material unserer Immunzellen ein, es ist also ein Retrovirus, das dauerhaft in unserem Körper verbleibt. Das Sars-CoV-2 wird hingegen durch unser Immunsystem vollständig aus dem Körper entfernt. HIV und Sars-CoV-2 nutzen unterschiedliche Enzyme für deren Vermehrung und auch verschiedene Rezeptoren, um in die Zellen zu gelangen. Bei HIV sind es CD4-Rezeptoren und ein Co-Rezeptor auf Immunzellen. Bei einer Infektion mit dem HI-Virus verringert sich nach einer gewisser Zeit die CD4-Zellzahl und somit die Funktionsfähigkeit unseres Immunsystems. Bei Sars-CoV-2 docken die Viren an das Enzym ACE-2 (angiotensin-converting-enzyme 2) in der Zellmembran an, nutzen es also als Rezeptor. ACE-2 ist im Körper und insbesondere im Atmungstrakt weitverbreitet, weshalb dieser die Eintrittsstelle bei einer Infektion darstellt.

STANDARD: Was sollte man bei Covid-19 gegen das Fieber einnehmen?

Lang: Prinzipiell ist Fieber eine bei Virusinfektionen sinnvolle Abwehrmaßnahme des Körpers, eine Senkung sollte daher erst bei höherem Fieber erfolgen. Ibuprofen, ASS und Diclofenac erhöhen die Menge von ACE-2, jedoch gibt es bislang keinen Beweis dafür, dass dies zu vermehrter Aggressivität des Coronavirus führt. Aus diesem Grund ist die letzte Woche kursierende Warnung vor diesen Substanzen nun auch von der WHO klar zurückgenommen worden. Alternativ kann man das gut fiebersenkende Paracetamol verwenden, dieses vermehrt ACE-2 jedenfalls nicht.

STANDARD: Warum ist es wichtig, dass HIV-positive Menschen ihre Medikamente konsequent einnehmen?

Lang: Das ist extrem wichtig, damit das Immunsystem sich nicht zusätzlich zu Sars-CoV-2 um das HI-Virus kümmern muss. Alle chronischen Infektionserkrankungen wie etwa eine Infektion mit dem HI-Virus können das Immunsystem stark beeinflussen. Kommt zu einer nicht effizient behandelten HIV-Infektion noch eine Virusinfektion hinzu, kann es zu einem sogenannten Zytokinsturm kommen. Zytokine sind Entzündungsbotenstoffe, über die die Immunzellen miteinander kommunizieren. Im Zusammenhang mit diesem Aktivierungssyndrom spielen insbesondere die Interleukine (IL) 6 und 23 sowie der Tumornekrosefaktor (TNF) eine wichtige Rolle. Aufgrund des Zytokinsturms werden dann bestimmte Immunzellen, die T-Lymphozyten, überaktiviert und körpereigene Immunzellen zerstört. Es kommt zu sehr hohem Fieber und diversen anderen Symptomen, etwa einer Milz- und Lebervergrößerung. Die Patienten sind schwerstkrank. Es kommt zum Multiorganversagen. Jeder zweite bis dritte Betroffene stirbt daran.

STANDARD: Gibt es Ansätze zur Therapie dieses Aktivierungssyndroms, das schwere Verläufe von Covid-19-Infektionen kennzeichnet?

Lang: Zur Therapie der rheumatoiden Arthritis sind derzeit bereits Substanzen wie Sarilumab und Tocilizumab zugelassen, die monoklonale Antikörper gegen den IL-6-Rezeptor darstellen. IL-6 wird daher an seiner Bindung an die Zielzellen gehindert, da diese Rezeptoren mit dem Antikörper bereits besetzt sind. Die immunologische Kaskadenreaktion wird folglich unterbrochen. Roche hat eine Studie mit 300 Covid-19-Patienten und Tocilizumab gestartet. Ein weiterer möglicherweise vielversprechender Ansatz ist der Einsatz von Gimsilumab, einem weiteren Antikörper, welcher derzeit noch in klinischer Erprobung bei rheumatoider Arthritis und anderen Autoimmunerkrankungen ist. Gimsilumab verringert die Ausschüttung von Entzündungsbotenstoffen und dämpft so überschießende Immunreaktionen. Es ist geplant, eine klinische Phase-2-Studie bei Covid-19 Patienten mit schwerem Verlauf durchzuführen.

STANDARD: Die größte HIV-Ambulanz am AKH Wien wurde durch eine Corona-Teststraße ersetzt. Wo können sich all jene Patienten, die bislang an dieser "4 Süd Ambulanz" betreut wurden, nun hinwenden?

Lang: In der Dermatologie des AKH auf Ebene 7J gibt es eine Notversorgung für HIV-Patienten von 4 Süd. Bei Bedarf bitte dort anrufen unter 01/40400-77480. Das Telefon ist Montag bis Freitag von 8.30 bis 12 Uhr besetzt. Außerdem können sich Betroffene per Mail an die Dermatologie wenden: hiv-derma@meduniwien.ac.at.

STANDARD: Hoffnungen zur Behandlung von Covid-19 wurden auch in das alte HIV-Medikament Kaletra gesetzt. Ergebnisse einer chinesischen Studie dazu wurden vor ein paar Tagen veröffentlicht. Was haben die Forscher herausgefunden?

Lang: Kaletra ist ein in der HIV-Therapie nicht mehr gebräuchlicher Proteasehemmer, der bei Sars 2002 geringe Erfolge gezeigt hat. Die Ergebnisse der aktuellen chinesischen Studie zum Einsatz von Kaletra bei Covid-19 sind schlichtweg ernüchternd. Das Medikament bewirkt keine Veränderung des Krankheitsverlaufs. Die Sterblichkeit nach vier Wochen war gleich hoch wie in der unbehandelten Kontrollgruppe. Es ist also nicht das Pferd, auf das man derzeit setzen wird.

STANDARD: Welches Medikament ist derzeit am vielversprechendsten und warum?

Lang: Das ist der RNA-Polymerase-Inhibitor Remdesivir. Ursprünglich wurde dieses Medikament für die Therapie von Ebola entwickelt. Dadurch, dass es die für die Vermehrung des Virus notwendige Polymerase hemmt, unterdrückt es dessen Vermehrung.

STANDARD: Wie sieht Ihr aktueller Praxisalltag als HIV-Arzt aus?

Lang: Wir sorgen dafür, dass immer nur ein Patient in der Praxis ist. Fieber wird gleich bei der Ankunft im Treppenhaus gemessen. Wenn ein Patient Fieber hat, wird er einer Testung zugeführt. Nach jedem Patienten folgt eine 15-minütige Pause, in der alles, womit der Patient in Kontakt kam, desinfiziert wird. Dank dieser Pause kann auch kein Zusammentreffen von Patienten im Treppenhaus stattfinden. Allerdings müssen wir die Zahl der Patienten auf ein Drittel der vor Corona üblichen Patientenzahl beschränken. Mehr ist nicht machbar.

STANDARD: Treffen Sie noch andere Schutzvorkehrungen?

Lang: Wir tragen den ganzen Tag Schutzmasken der höchsten Filterklasse FFP3. Wir beachten sehr strenge Vorkehrungen. Das macht den Alltag ziemlich anstrengend. Alle Praxismitarbeiter haben sich selbst isoliert, leben also während dieser schwierigen Zeit ohne Partner und Familien, damit wir als Team einsatzfähig bleiben. Unsere Patienten fühlen sich dadurch bei uns in der Praxis sicher. (Gerlinde Felix, 30.3.2020)