Menschen ohne dauerhaften Wohnsitz sind von der Krise noch stärker betroffen, warnen Experten.

Foto: Matthias Cremer

Wer derzeit durch Parks und Straßen spaziert, hat eine gute Chance, niemandem zu begegnen. Wenn man doch jemanden trifft, ist der zumeist allein unterwegs oder im Pärchenverband. Um möglichst von der Idee abgebracht zu werden, sich länger draußen aufzuhalten, weisen an manchen Plätzen Schilder darauf hin, dass es nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt ist, das Haus zu verlassen.

Seit die Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus in Kraft getreten sind, ist der öffentliche Raum nahezu verwaist. Der Rückzug ins Private fordert seinen Tribut, das Leben abseits der eigenen vier Wände steht weitgehend still. Viele werden dadurch in ihrer Lebensführung eingeschränkt. Sie ziehen sich aber immerhin an einen Ort zurück, den sie ihr Zuhause nennen. Andere fühlen sich von genau dort ausgesperrt: Für Randgruppen, die prekär wohnen oder überhaupt keine Wohnung haben, ist der öffentliche Raum ihr primärer Aufenthaltsort, oft auch der Wohnzimmerersatz. Viele dieser Menschen wissen derzeit nicht, wohin sie sollen.

Enger Raum

Mehrere Sozialarbeiter berichten dem STANDARD von heiklen Situationen. "Die Leute warten zum Teil vor den Tageszentren, weil diese bereits ausgelastet sind", sagt ein Wiener Sozialarbeiter, der in der Wiener Wohnungslosenhilfe tätig ist. Viele Notschlafstellen haben nun zwar auch tagsüber geöffnet, um die Kapazitäten zu erhöhen. Gleichzeitig müssen Zentren und Beratungsstellen aber auch die Anzahl der Menschen drosseln, die sich in einem Raum aufhalten, um ein Mindestmaß an Hygienestandards einhalten zu können.

Die Ansteckungsgefahr sei zum Teil aber naturgemäß hoch, wenn sich mehrere Menschen in einem Raum aufhalten. Aus Sicht des Fonds Soziales Wien (FSW) pendle sich die Situation derzeit ein, sagt ein Sprecher. Man merke, dass es nun möglich sei, sich weiterhin in den Notschlafstellen aufzuhalten. Die Situation sei aber auch wetterabhängig.

"Eigentlich wäre der öffentliche Raum derzeit für viele der Betroffenen ein guter Ausweichort und oftmals auch sicherer", sagt Christoph Stoik, Professor für soziale Arbeit, zum STANDARD. Doch droht die Konfrontation mit der Polizei: Ob die geltenden Beschränkungen eingehalten werden, wird von den Sicherheitsbehörden derzeit relativ streng kontrolliert. "Da beißt sich dann die Katze in den Schwanz", sagt Stoik.

Kontrollen

Im Zuge von Kontrollen sei es auch schon zu Problemen gekommen, berichten Sozialarbeiter: Wohnungslose Personen würden etwa aufgefordert, einen Schlafplatz vorzuweisen oder aus Parks verwiesen werden. Immer wieder würden auch Personen, die etwa vor Supermärkten in Gruppen stehen, Schwierigkeiten bekommen, weil sie das Abstandsgebot nicht einhalten.

Grundsätzlich versuchen einschreitende Beamte zuerst auf Dialog zu setzen und nur im notwendigen Fall zu sanktionieren, heißt es seitens der Wiener Polizei. Eine spezielle Strategie für diverse Bevölkerungsgruppen gebe es "selbstverständlich nicht".

Die Entscheidung der Stadt, die Notquartiere auch tagsüber zu öffnen, sei sicher die richtige Reaktion gewesen, sagt Stoik. Auch die Delogierungen aus Gemeindewohnungen wurden gestoppt. Es sei nur die Frage, ob das ausreichen werde: "In der aktuellen Krise werden die Mängel in der Wohnungslosenhilfe sichtbar. Was wir brauchen, ist Wohnraum mit Privatsphäre, der den Personen zur Verfügung gestellt wird."

Hochrisikogruppen

Vielfach werden Wohnungslose oder Suchtkranke in erster Linie als Gefährder gesehen. Doch eigentlich seien diese selbst eine Hochrisikogruppe, sagt Sozialarbeiterin Lucia Palas, die in einer betreuten Wohneinrichtung arbeitet: "Viele haben mehrere Vorerkrankungen, ihr Gesundheitszustand ist oft schlecht." Für jene mit psychischen Erkrankungen sei die Situation besonders herausfordernd. Gleichzeitig gebe es keine nachbarschaftlichen Angebote wie Einkaufsdienste, oft auch wenig sozialen Kontakt nach außen. "Diese Leute finden schlicht keine Beachtung, und wenn, dann werden sie als Bedrohung wahrgenommen", sagt Palas.

Sollte sich jemand in dieser Gruppe infizieren, sei die Wahrscheinlichkeit von weiteren Ansteckungen sehr hoch: "Das wäre fatal. Vermutlich würden viele sterben." Die Gefahr sieht auch Experte Stoik: "In dieser Hochrisikogruppe würde es Todesfälle geben." Seitens der Polizei müsse es deshalb jetzt ein gewisses Entgegenkommen geben: "Es braucht Verständnis dafür, dass Wohnungslose keinen Wohnraum haben. Dass sich viele in Gruppen aufhalten, hat auch damit zu tun, dass sie ständig ausgegrenzt werden."

Zusätzlich brauche es mehr finanzielle und personelle Ressourcen für die soziale Arbeit, sagt Palas. Dadurch, dass soziale Arbeit schlicht auch nicht unter völligem Social Distancing funktioniere, zähle auch diese Berufsgruppe zu den gefährdeten. Und man arbeite bereits jetzt am Kapazitätslimit. (Vanessa Gaigg, 26.3.2020)