Mausallein mit dem Stephansdom. Was über Jahre nur nachts möglich war, kann nun auch am Tag erlebt werden. Spooky.

Foto: Michael Hausenblas

Ein trauriges Häufchen sind die Möbel eines Gastgartens auf dem Franziskanerplatz. Moses hält allein die Stellung. Wie lange?

Foto: Michael Hausenblas

Zeuge eines Touri-Alltags von gestern. Wer sollte in diesen Zeiten eine Postkarte schreiben? Und was sollte darauf stehen?

Foto: Michael Hausenblas

Leeres Pflaster: Der erste Bezirk ist so gut wie menschenleer.

Foto: Michael Hausenblas

Vor 80 Tagen stieg ich schnaufend den Südturm des Stephansdoms empor. 343 Treppenstufen und ein Haufen Leute winden sich dort Tag für Tag im engen Gemäuer schneckenhaft himmelwärts. Von einem kleinen Fenster der Turmstube aus fällt der Blick gleich dem eines Falken auf den Stephansplatz. Die Besteigung fand am Tag vor Silvester statt, als sich dort unten Zigtausende tummelten. Der Platz mit den vielen kleinen Punkten glich einem Ameisenhaufen. Die Ameisen waren Besucher aus aller Welt. Sie wimmelten hin und her, vor und zurück. Sie trugen Anoraks und kauften Glücksschweine für das neue Jahr 2020.

80 Tage später sitze ich – wahrscheinlich zum allerersten Mal – auf einer Bank auf dem Stephansplatz. Normalerweise husche ich hier geübten und schnellen, manchmal auch fluchenden Schrittes zwischen Horden von Touristen hindurch. Der Aufgang zum Turm ist heute geschlossen. Auch am Tag darauf wird er geschlossen bleiben. Und an denen danach. An wie vielen?

Fehl am Platz

Auch alles andere am Stephansplatz hat geschlossen, abgesehen von der Apotheke und der kleinen Tabaktrafik, in der es oft nach nassem Hund riecht. Immerhin zwei Zeichen von vertrautem Alltag. Vor der Trafik steht ein Ständer mit Postkarten. Sisi und so. 80 Tage nach meinem Aufstieg erscheint der Ständer fehl am Platz, wie aus einer anderen Welt hingespuckt. Aus einer Welt von gestern, die noch vor wenigen Tagen eine von heute war. Das Heute hat sich verändert.

Wer sollte an diesem Tag eine Postkarte kaufen? Und was sollten er oder sie darauf schreiben?

Sechs Passanten zähle ich von meiner Bank aus. Zwei Bänke weiter hockt eine obdachlose Frau. Nach einem ganz eigenen System scheint sie ihr Hab und Gut zu einem bunten Packen aus Säcken zusammengeschnürt zu haben. Der Packen und die Postkarten vor der Trafik sind die einzigen Farbtupfer an diesem Ort. Erstaunlich deutlich zu hören ist das Gegurre der Tauben, das von gelegentlichen Flügelschlägen durchbrochen wird. Fast erschrickt man, wenn einer der Vögel zur Landung ansetzt oder hektisch flatternd abhebt.

Schluss mit Zynismus

Vor dem Tor des Domes stehen vier schwarzgekleidete Männer. Sie erinnern an Pompfüneberer. Besucher dürfen keine in den Dom. Messen sind abgesagt. Warum das Tor dennoch offen steht? "Beichten dürfens noch", sagt einer aus dem Quartett. "Gut zu wissen", läge einem auf der Zunge, wäre diese eine zynische. Wie viel Zynismus vertragen diese Tage? "Gsund bleiben", sagt der Mann am Tor. Also Schluss mit Zynismus.

Der Dom wirkt, als würde er es gelassen sehen. Als könnten Steine gelassen sein. Und doch beginnt er zu plaudern, der Dom, so wie es im alten Wiener Hadern von Peter Alexander heißt: "Da fangt der alten Stephansturm zu plaudern an". Man muss nur gut hinhören: Hier wütete die Pest, hier brannte es zum Ende des Zweiten Weltkriegs, das sich bald zum 75. Mal jährt. Hier fand die Totenmesse für Mozart, Helmut Zilk und Kaiser Franz Joseph statt. Hier wurde geschmust und geturtelt ebenso wie demonstriert. Hier wurden Millionen Selfies geschossen, und vor 80 Tagen und ein paar Zerquetschen dampften wie jeden Advent Punschhäferln wie unzählige kleine Kamine vor sich hin.

Pfade des Alltags

Mein Weg führte mich oft über diesen Platz. Fast täglich. Heute ist dieses Kommen und Gehen ein anderes. Zwischen dem Tag, an dem ich diese Geschichte schreibe, und jenem, an dem sie erscheinen wird – was wie so vieles nicht mehr sicher ist –, werden einige Tage vergehen. Werde ich mich dann fragen, ob dieser Text zu zögerlich angelegt ist? Zu übertrieben oder gar zu pathetisch?

Bald ist es zwei Jahre her, da schrieb ich einen Bericht im STANDARD, in dem es darum ging, wie Anwohner des Stadtzentrums auf den Pfaden des Alltags immer mehr unter den Touristenmassen zum Keuchen und Fluchen kommen. Der Text hat für einigen Wirbel gesorgt. Oh ja.

Japanerslalom

Fast über Nacht scheint der Begriff Overtourism markiert und gelöscht worden zu sein. Innerhalb verblüffend kurzer Zeit ist er eine Erinnerung geworden, ein Puzzle aus vielen Bildern.

Vor zwei Jahren schrieb ich über diesen Ort mit seinen nur 16.500 Einwohnern, aber 250.000 täglichen Besuchern, "Japanerslalom" sei die empfohlene Art für Einheimische, sich im Zentrum zu bewegen. Ich schrieb davon, dass es dabei darum gehe, geschickt Haken schlagend die Touristenhorden zu umschiffen. Ich erwähnte, wie zäh, träge und herdengleich viele Touristen in gallertartigen Gruppen über den Graben mäandern und einem so manche Besorgung vergällen. Dass die Mehrheit der Augenpaare nicht auf der Pestsäule, sondern auf dem Smartphone pickten und das die Ausweichmanöver in jenem dreidimensionalen Wimmelbuch nicht leichter mache. Heute ist Schluss mit "Japanerslalom". Heute könnte hier Tennis gespielt werden.

Ein Albtraum

Fast über Nacht verstummt ist die Schimpferei über eine völlig überlaufene Label-besessene Monokultur der Shoppingmalls samt Schnöselgastronomie und Schickeriahotellerie. Heute mault kein Tourist über "Schweinepreise", wenn er im Schaufenster die Limited Edition von Sängerknaben-Schokokugeln um 3,99 Euro für 15 Stück begutachtet. Heute raunzt hier keiner, denn da ist niemand.

Auch das Gejammer über das Nagen des Massentourismus an Identitäten von Stadtzentren wie Rom, Venedig oder Wien weicht anderen Fragen. Zum Beispiel, ob die Schlangen vor Louis-Vuitton-, Prada- und Chanel-Flagship-Stores doch zu Schlangen vor Supermärkten werden? Eine Frage dominiert allerdings den Katalog an Fraglichem: wann dieser Albtraum zu Ende sein wird. Doch das weiß man bei Träumen nicht. Bei den guten ebenso wenig wie bei den schlechten. Man verzeihe den pathetischen Ausflug. Das Pathetische hat gute Chancen in diesen Tagen.

Schutzmasken statt Mozartkugeln

Auch die Horden von Touristen vor der Anker-Uhr am Hohen Markt, ein paar Gehminuten vom Dom entfernt, sind flugs zu einer Erinnerung geworden. Gegenüber der Attraktion, deren Faszination sich mir bis heute nicht erschließt, hat ein CBD-Hanf-Shop geöffnet, im Schaufenster werden Schutzmasken um 19 Euro feilgeboten. Also Schutzmasken statt Mozartkugeln. Die Bude ist leer. Der Würstelstand vis-à-vis wirkt, als wäre er aus der Zeit gefallen. Von heute auf morgen.

Ein guter Freund arbeitet im Haus um die Ecke in seinem Büro im ersten Stock. Er ist mein bester Freund. Ich erspähe ihn an seinem Schreibtisch sitzen. Er öffnet das Fenster, wir plaudern eine Minute. Normalerweise bittet er mich, auf einen Espresso hinaufzukommen. Heute nicht. Heute sagt auch er: "Gsund bleiben." Ansonsten ist nichts zu hören außer dem Surren der Fahrradkette eines Lebensmittelboten und dem Rattern einer Bohrmaschine, mit der jemand irgendwo Löcher bohrt.

Im Weg stehen

Ein paar Gassen weiter, vorbei an einer Touri-Schnitzelfabrik in der Bäckerstraße, wo sonst um diese Zeit – auch wenn es wie aus Kübeln regnet – ganze Menschenknäuel samt Kinderwagen auf Einlass und Schnitzi warten, liegt die Domgasse, wo Mozart seinen "Figaro" komponierte. Vor zwei Jahren schrieb ich: Die Domgasse ist eine besondere alte "Dame" im Reigen der Wiener Innenstadtgassen. Mozart ging hier mit seinem Hund Gassi. Er nannte ihn Gauckerl.

Vor zwei Jahren, auch noch vor drei Wochen, versammelten sich ganze Weinstöcke von Touristentrauben vor dem einstigen Wohnhaus des Komponisten. In dieser engen Gasse zeigten sie ganz besonderes Talent, einem im Weg zu stehen. Hatte man Glück, war das Summen der "Kleinen Nachtmusik" zu hören. Hatte man Pech, verging sich einer an der Königin der Nacht und klang dabei wie eine pubertierende Saatkrähe. Zumindest der Vorstellung davon.

Seltsames Lächeln

Heute ist hier gar nichts zu hören außer dem Glockenschlag der Deutsch-Ordenskirche, die um die Ecke ihr stündliches Stückerl spielt. Fast schüchtern klingt ihr ebenfalls so vertrautes Gebimmel. Zwei Kaminkehrer kommen lachend des Weges. Flugs also an den obersten Mantelknopf greifen! Das soll Glück bringen. Hilft’s nicht, schadet’s nicht. Heute besonders.

Als die Glocken verstummt sind, ist nur mehr das Plätschern eines Abwasserkanals unter einem schweren Gitter zu vernehmen. Es klingt beruhigend. Erinnert an ein Bacherl in der Ferne, die heute noch ferner scheint. In meiner Geschichte zur "Venedigisierung" Wiens empfahl ich als Erster-Bezirk-Slalomspezialist, das eine oder andere Auge und Ohr zuzudrücken, auf den Pfaden durch die Massen. Heute entlockt mir das ein seltsames Lächeln. Ob diese Krise auch etwas Gutes bringen wird für die Zukunft? Noch so eine Frage. Noch so ein Moment zum Innehalten. Davon gibt’s nun zur Genüge, ohne dass der Grund ein chinesischer Tourist wäre, dem man sonst auf die Fersen steigen würde.

Pssssst!

Die Kaminkehrer vor dem Mozarthaus sind verschwunden, man ist wieder allein mit all den Pflastersteinen der Blutgasse. Über ihre Rechtecke und Quader weitergehend, lande ich auf dem Franziskanerplatz, wo ich auf einer Bank neben dem Eingang zur Klosterkirche zum Sitzen komme. Moses thront auf seinem Brunnen wie seit über 200 Jahren. Neben mir auf der Bank, wo regelmäßig ein Obdachloser sein Nachtlager aufschlägt, steht eine leere Dose Bier. Mein Stammcafé am Platz hat geschlossen, die metallenen Rollläden heruntergelassen. Normalerweise ist dies nur am Tag nach Weihnachten der Fall. Normalerweise würden dort jetzt die ersten Gäste ihre Melange im Gastgarten bestellen, noch in Wolldecken gehüllt und Zeitung lesend. Aber normalerweise ist nicht mehr.

Seit mehr als 20 Jahren besuche ich dieses Lokal, normalerweise fünfmal die Woche. Das macht Pi mal Daumen über 5.000 Besuche. Aber normalerweise ist nicht mehr. Heute muss ich draußen bleiben. Sollte ich froh sein, überhaupt draußen sein zu dürfen? Sollte ich überhaupt draußen sein? Sollte ich mich einfach auf den Moment freuen, in dem ich hier mit meiner Herzallerliebsten wieder einen Spritzwein bestellen werde?

Trübe Kristallkugel

Die grünen Gartenstühle und die dazugehörigen Tische sind zu einem armselig wirkenden Häufchen zusammengekettet worden. Nutzlos sind sie und ihr Anblick traurig. Wie in vielen Gastgärten, ist auch hier ein Schild zu sehen, auf dem "Pssst" steht und das die Gäste gemahnt, den Lärmpegel am Abend im Zaum zu halten. Ist ein Lächeln angesichts dieses Schildes unangebracht? Entspringt es einem Verwandten des Galgenhumors? Das einzige Geräusch, das zu vernehmen ist, sind die tapsenden Pfoten eines Schäferhundes, der an der Leine seines Herrl über die Pflastersteine schnüffelt. Plötzlich werden die Pfotentapser vom Schrei einer Krähe übertönt. Nein, wir denken nicht an Hitchcock!

Lieber daran, was hier in 80 Tagen sein wird. Wird jemand wieder eine Postkarte kaufen, gleich um die Ecke beim Dom? Wenn ja, was wird auf ihr zu lesen sein? In wie vielen Tagen werde ich wieder wie ein Falke von der kleinen Stube des Turms aus auf Ameisen im Anorak blicken, beim "Japanerslalom" weniger fluchen und aufatmend und erlöst an diese Momente allein mit den Tauben und der Obdachlosen denken? Die Kristallkugel ist trübe und grau geworden. Grau wie die Flügel der Tauben und undurchsichtig wie die Pflastersteine, von denen ich nie geglaubt hätte, dass derer so viele meine Wege durch die Innenstadt pflastern. (Michael Hausenblas, RONDO, 27.3.2020)