"Sie müssen zu Hause bleiben, um Tausende von Menschenleben zu retten" – Boris Johnson fand endlich die richtigen Worte.
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Unausweichlich gemacht hatte den spektakulären Schritt die liebe Sonne. Nach dem feuchtesten Februar seit Menschengedenken und eiskalten Märzwinden war pünktlich zum Frühlingsbeginn am vergangenen Wochenende auch auf der Insel herrliches Wetter eingezogen. Prompt taten die Briten, was sie ebenso sehr für ihr unverbrüchliches Recht als freie Bürger halten wie den abendlichen Pub-Besuch: Sie zogen zu Hunderttausenden an die herrlichen Strände, auf die Hügel, in die Wälder ihrer Heimat.

Am Montag verteilten Opposition und Medien ihre Empörung gerecht auf die Öffentlichkeit und die Regierung. Weil erstere offenbar den Ernst der Bedrohung durch das Coronavirus nicht erkannt habe, müsse letztere endlich härter durchgreifen, forderte etwa Labours Gesundheitssprecher Jonathan Ashworth. Premierminister Boris Johnson wurde in diversen Medien nicht etwa mit seinem Helden, dem Kriegspremiers Winston Churchill (1940–1945) verglichen, sondern mit dessen Vorgänger Neville Chamberlain (1937–1940), der wegen seiner Appeasement-Politik heute (fälschlicherweise) als Schwächling gilt.

Längst überfällig

Am Abend trat der Regierungschef vor die Kamera und verfügte, was angesichts rasch ansteigender Infiziertenzahlen und Todesfälle längst unausweichlich wirkte: Ab sofort gelten auf der Insel die gleichen Ausgangsbeschränkungen wie in anderen europäischen Ländern. Nur für Arzt- oder Apothekenbesuche, dringlichste Einkäufe und täglich einmalige Fitness durch Joggen, Radeln oder Spazierengehen ist das Verlassen der eigenen vier Wände noch erlaubt. Versammlungen von mehr als zwei Personen sind verboten, darunter auch Hochzeiten und Taufen – einzige Ausnahme bilden Beerdigungen. Pubs, Restaurants und Fitnessstudios waren bereits seit Freitag geschlossen, nun kommen sämtliche Einzelhändler jenseits der Lebensmittelversorgung hinzu. Die häusliche Isolierung gilt zunächst für drei Wochen bis Osterdienstag.

Damit ist die politische und medizinische Kehrtwende vollzogen, die Großbritannien in die gleiche Position versetzt wie seine europäischen Nachbarn. Noch vor zwei Wochen hatte Johnson es dabei belassen, seine Landsleute in gewohnter Leutseligkeit zu längerem und häufigerem Händewaschen aufzufordern. Als auf dem Kontinent Sportturniere und Fußballspiele längst abgesagt waren oder vor leeren Stadien ausgetragen wurden, begeisterten sich noch 45.000 Menschen an der Champions-League-Partie zwischen FC Liverpool und Atlético Madrid. Museen und Theater blieben geöffnet.

Mythos Herdenimmunität

Regierungsvertreter redeten von der Herdenimmunität. Dabei infizieren sich größere Teile der Bevölkerung mit dem Coronavirus, erkranken jedoch nicht an der Lungenkrankheit Covid-19, was die Verbreitung des Virus verlangsamt. Allerdings gibt es bisher keine Gewissheit darüber, dass einmal Infizierte auch tatsächlich eine Immunität entwickeln. Auch blieb unklar, wie die Regierung die Risikogruppen, also gesundheitlich Vorbelastete sowie ältere Menschen über 70, vor der Ansteckung bewahren wollte.

Empörte Proteste von Wissenschaftern und Öffentlichkeit – die vielzitierte Studie des Londoner Imperial College sagte eine Viertelmillion Tote voraus – brachten zunächst die Zivilgesellschaft, später auch die Regierung zum Nachdenken. Fußballligen, Theater und Konzertsäle machten unter dem Druck der Öffentlichkeit von sich aus dicht, auch immer mehr Schulen schlossen ihre Pforten. Unterdessen deckten sich die Bürger panikartig mit Toilettenpapier und Nudeln ein.

Die Regierung hinkte stets hinterher: mit einem Unterstützungspaket für Unternehmen und Angestellte, das über mehr als fünf Millionen Selbstständige außer Acht lässt; mit Schulschließungen, bei denen ungeklärt blieb, was aus Prüfungen zur Mittleren Reife und zur Matura wird; mit Auftritten des Premierministers, in denen häufig verwirrende Botschaften transportiert wurden. So teilte Johnson noch am Freitag mit, er freue sich auf ein Wiedersehen mit seiner Mutter zum britischen Muttertag am Sonntag. Hastig musste die Downing Street später erläutern, der Chef habe eine Begegnung per Skype oder Facetime gemeint.

"Sie müssen zu Hause bleiben"

Am Montagabend hingegen gab sich der zuletzt getrieben und überfordert wirkende 55-Jährige keine Blöße: "Sie müssen zu Hause bleiben, um Tausende von Menschenleben zu retten", schrieb er den Bürgern ins Stammbuch. Ausdrücklich zog Johnson den Vergleich mit Italien. Tatsächlich befürchten im Nationalen Gesundheitssystem NHS viele Verantwortliche Zustände wie im norditalienischen Bergamo oder Mailand. 500 Ärzte und 4.000 Krankenschwestern und -pfleger sind freiwillig aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Ein riesiges Kongresszentrum im Osten Londons wird derzeit von der Armee auf seine Tauglichkeit als Notfallkrankenhaus überprüft.

Die Regierungsinternen Streitigkeiten und die womöglich allzu lang hinausgezögerte Abkehr von der Herdenimmunität scheinen die Öffentlichkeit nicht zu beeindrucken. Die Firma Yougov ermittelte am Dienstag überwältigende Zustimmung von mehr als 90 Prozent der Briten zu den neuen Ausgangsbeschränkungen und deutlich gestiegene Sympathiewerte für Johnson und seine wichtigsten Minister.

Dekrete im Eiltempo

Ob sich die Bevölkerung aber an die harten neuen Vorgaben halten wird? Billig-Sportartikelanbieter Mike Ashley tönte Dienstagfrüh, seine Läden würden offen bleiben, schließlich müssten die Briten ja irgendwo Sportausrüstung kaufen. Ein Verdikt des zuständigen Ministers Michael Gove machte dem Begehren ein Ende. Sollte es aber zu größeren Versammlungen in Parks und auf öffentlichen Plätzen kommen, wäre die Polizei wohl rasch überfordert. Das Land hat nach zehnjährigem Sparprogramm unter Johnsons Konservativen nur rund die Hälfte der Polizeibeamten, über die beispielsweise Italien verfügt. Paramilitärische Einheiten wie die spanische Guardia Civil oder Deutschlands Bereitschaftspolizei fehlen vollkommen.

Das Unterhaus hat am Montag im Schnelldurchgang und mit Unterstützung der Opposition ein Notstandsgesetz verabschiedet, das in sechs Monaten überprüft werden soll. Es ermöglicht der Polizei die Festnahme von Testverweigerern und Infizierten, der Regierung die Rationierung von Lebensmitteln. Speaker Lindsay Hoyle verfügte zudem die Schließung sämtlicher Bars, wo sich durstige Volksvertreter und deren Mitarbeiter sonst gern bis tief in die Nacht das verbilligte Bier in die Kehlen schütten. Nun wird erwogen, die kommende Woche ohnehin anstehenden Osterferien vorzuziehen.

Freiwillige gesucht

Am Dienstag gab Gesundheitsminister Matt Hancock bekannt, dass der Staat 250.000 Freiwillige sucht, die den National Health Service (NHS) sowie vom Coronavirus Betroffene unterstützen sollen. Die Freiwilligen sollen unter anderem für Betroffene einkaufen, Medizin ausliefern und mit isolierten Menschen telefonieren. Außerdem sollen alle Mediziner und Krankenpfleger, die im letzten Jahr ihrer Ausbildung sind, in den aktiven Dienst einsteigen.

Weiters kündigte Hancock an, dass mithilfe des Militärs ein temporäres Spital gebaut wird. Das HMS Nightingale soll im Messezentrum Excel nahe den Royal Docks in London entstehen und bis zu 4.000 Patienten beherbergen. (Sebastian Borger aus London, 24.3.2020)