In Österreich gibt es ein Fernbehandlungsverbot für Psychotherapie. In der aktuellen Situation ist es allerdings im Sinne der sozialen Distanzierung aufgehoben.

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Wir befinden uns zurzeit in einem kollektiven Ausnahmezustand, für den wir auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen können. Unser bisheriges Leben mit all seinen stabilisierenden Routinen ist außer Kraft gesetzt, Dauer und Ausgang der Krise sind ungewiss.

In dieser Unsicherheit blüht die Fantasie und gestaltet eine Zukunft, die je nach Persönlichkeitstyp, psychischer Verfasstheit und materieller Absicherung irgendwo zwischen Apokalypse und antiglobaler Öko-Utopie angesiedelt ist. Damit lassen sich diverse Ängste zumindest in geordnete Bahnen lenken oder sogar mit alten Hoffnungen kurzschließen. Eine Zeitlang jedenfalls.

"Was dieser Ausnahmezustand mit uns allen macht, speziell unter der Bedingung sozialer Isolation, kann niemand vorhersagen", sagt Sylke Andreas, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Klagenfurt. "Je länger er dauert, desto problematischer sind die Auswirkungen auf die Psyche."

Dass es wie bei der Infektionsgefährdung auch in diesem Bereich Hochrisikogruppen gibt, wird oft übersehen. "Es sind vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen, die in der jetzigen Situation besonders leiden", sagt Andreas.

Soziale Isolation

Für sie sind das Zusammenbrechen ihrer gewohnten Alltagsstrukturen und eine sich täglich ändernde, völlig ungewisse Situation schwerer zu ertragen als für psychisch Gesunde. Wobei die soziale Isolation die psychischen Krankheitsbilder weiter verstärkt. Alleine, ohne stabilisierende Routinen und mit viel Zeit zum Grübeln, steigt die Gefahr, sich in bedrückenden und beängstigenden Gedanken zu verlieren.

"Wir müssen die Gefährdung dieser speziellen Risikogruppe erkennen und jetzt besonders auf sie achten", so Andreas. Als Leiterin des Psychotherapeutischen Forschungs- und Lehrzentrums der Uni Klagenfurt kann sie in der gegenwärtigen Extremsituation konkrete Hilfe für Betroffene anbieten.

"Unsere Patienten können sich telemedizinisch von uns beraten und behandeln lassen, zudem haben wir zusätzliche Behandlungsplätze für Menschen mit akuten psychischen Problemen bekommen."

Verbot von Fernbehandlungen

Eigentlich gilt in Österreich ein Fernbehandlungsverbot. "In der aktuellen Krise ist dieses Verbot allerdings ausgesetzt", sagt Andreas. "Ich hoffe, dass es durch die jetzige Situation zu einem Umdenken kommt und dieses Verbot dauerhaft aufgehoben wird, sodass wir auch in Zukunft telefon- und videobasierte Therapien anbieten können."

Damit sich dieses neue Angebot auf ein solides wissenschaftliches Fundament stützen kann, hofft sie zudem auf zusätzliche Mittel zur weiteren Erforschung der Wirksamkeit von Teletherapie bei den verschiedenen Therapieformen.

Was aber kann man selber tun, um in diesen Zeiten psychisch nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten? "Zurzeit brauchen wir die emotionale Nähe zu Freunden und Familie ganz besonders, damit uns zu Hause nicht die Decke auf den Kopf fällt", sagt die Wissenschafterin und Psychotherapeutin.

"In dieser Situation empfehle ich jedem, Telefon und soziale Medien intensiver als in normalen Zeiten zu nutzen." Das ersetze zwar keine Umarmung, "aber emotionale Nähe kann auch übers Telefon und vor allem mithilfe videobasierter Kommunikation fast so gut wie im persönlichen Kontakt vermittelt werden."

Gefühlswelt stabilisieren

Auch anderen Menschen zu helfen kann die eigene Gefühlswelt stabilisieren. "Prosoziales Verhalten bringt Bestätigung und Dankbarkeit durch die Umwelt, was nicht nur für die anderen eine heilsame Wirkung hat."

Wo mehrere Menschen in einer Wohnung zusammengesperrt viel Zeit miteinander verbringen müssen, steigt bekanntlich die Gewaltanfälligkeit. Wie man dem vorbeugen könnte? "Ich bin zwar keine Gewaltexpertin, aber mein persönlicher Rat ist, für jeden so weit wie möglich Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen", empfiehlt die Psychotherapeutin. "Auch ein Boxsack in der Wohnung kann helfen, aufsteigende Aggressionen zu kanalisieren."

"Vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden unter der jetzigen Situation besonders", sagt Sylke Andreas, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Klagenfurt.
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Und was ist mit den vielbeschworenen Chancen, die jede Krise neben Leid und Gefahren auch mit sich bringen soll? Hinter der leicht abgenutzten Aufmunterungsphrase lassen sich durchaus stichhaltige Erkenntnisse entdecken. "Wir kennen in der Psychologie das Phänomen des ‚posttraumatischen Wachstums‘", berichtet Andreas.

"Das heißt, dass Menschen nach einem Trauma oder einer schweren Erkrankung innerlich wachsen können." Sie reifen durch die belastenden Erfahrungen in ihrer Persönlichkeit und setzen sich nicht selten entsprechende neue Lebensziele. Vermutlich werden durch die aktuelle Situation viele Menschen auch diese psychische Reaktion bei sich und anderen beobachten.

Die Corona-Krise als Zwangs-Retreat mit der Chance auf Selbstfindung? Warum nicht? Immerhin haben jetzt mehr Menschen Zeit zur (Selbst-)Reflexion als jemals zuvor. "Wie sich das letztlich auswirkt, hängt allerdings auch von der Dauer des Ausnahmezustands ab", sagt die Wissenschafterin.

"Aber ich kann mir gut vorstellen, dass das Aussetzen der Alltagsroutine auch sehr positive Entwicklungen auslöst." Diese werden – wie auch die negativen psychischen Folgen – meist erst sichtbar, wenn das Leben wieder im Normalmodus läuft.

Breites Gefühlsspektrum

Aus der Traumaforschung wisse man nämlich, dass Menschen in der Krise oft sehr gefasst reagieren und mit allen Mitteln versuchen, gut durch die Extremsituation zu kommen. "Viele Symptome zeigen sich deshalb erst dann, wenn das traumatische Ereignis vorbei ist und die emotionale Verarbeitung beginnt", weiß Sylke Andreas aus ihrer klinischen Erfahrung.

Die psychischen Folgen der Corona-Krise werden in den unterschiedlichen Ländern, Gesellschaften und (Sub-)Kulturen ein ziemlich breites Gefühlsspektrum widerspiegeln: vom gestärkten Solidaritätsempfinden über den Mut für radikale Neuanfänge bis hin zum gesteigerten Misstrauen gegen alles Fremde. Was immer emotional auch zurückbleibt – die Menschen werden nicht mehr dieselben sein, die sie vor Corona waren. (Doris Griesser, 26.3.2020)