Armin Nassehi freut sich zwar auch über die zusätzliche Zeit am Schreibtisch, die ihm die Corona-Krise beschert hat, aber als Soziologe (und Vater eines bereits erwachsenen Sohnes) warnt er davor, jetzt von allzu viel häuslicher Idylle in den rund um die Uhr zusammengesperrten Familien, die auch noch die outgesourcte Schule übernehmen sollen, auszugehen.

Foto: Imago/Lumma

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Corona-Virus hat zwischenzeitlich auch die Einkaufstempel geleert. Damit ist eine wichtige Ressource für "Langeweilebewirtschaftung des Bewusstseins" ist weg.

Foto: Getty Images / Lars Rücker

Für die Soziologie ist die Corona-Krise ein spannendes Beobachtungsfeld. Denn die rigiden Maßnahmen zur Eindämmung des Virus greifen tief in gesellschaftliche Strukturen und das soziale Verhalten der Menschen ein, erklärt Armin Nassehi.

STANDARD: Was macht die Corona-Krise mit unserer Gesellschaft?

Nassehi: Sie unterbricht alle Routinen, an die wir uns gewöhnt haben, die Selbstverständlichkeiten in der modernen Welt: mit unterschiedlichen Menschen Kontakt zu haben, sich am Tag in unterschiedlichen Funktionen zu erleben, sehr mobil zu sein. Das alles wurde von heute auf morgen außer Kraft gesetzt, und wir lernen jetzt erst, wie selbstverständlich wir uns sonst in einer Welt bewegen, in der es nicht nur einen Ort gibt, an dem wir sein können.

STANDARD: Jetzt implodiert die Welt quasi, sie reduziert sich auf die Familie oder das engste soziale Nahfeld ...

Nassehi: Ja, private Beziehungen werden eingedampft auf die eigene Familie, den Raum mit den Menschen, die wir am Ende anstecken dürfen, ohne uns dafür erklären zu müssen. Jetzt merken wir, dass das Private nur ein Teil unseres Lebens war, nicht das Ganze, und das bringt alle unsere Alltagsroutinen durcheinander. Dadurch wird die Krise sehr deutlich.

STANDARD: Stellen wir uns vor, die Corona-Krise wäre ein Jahrzehnt früher gekommen – ohne fast flächendeckendes Internet, die Möglichkeit von Homeoffice oder Homeschooling für viele Menschen, aber auch ohne soziale Medien. Was hätte das bedeutet?

Nassehi: Es gibt ja so ein "Unbehagen an der digitalen Kultur" – so habe ich es in meinem Buch Muster genannt. Aber im Moment erleben wir eine Form der Kritik an der Kulturkritik am Digitalen. Denn wir sehen, dass wir persönliche Nähe, berufliche Tätigkeiten, aber auch die Information der Bevölkerung ohne diese Medien überhaupt nicht mehr bewerkstelligen können. Für mich die eindrucksvollste Meldung aus Italien war, dass dort sterbende Patienten übers iPad mit ihren Lieben verbunden werden, weil sie sich nicht sehen können. Das vermeintliche Distanzmedium ermöglicht also persönliche Nähe. Die Corona-Krise wird sich auch auf die digitale Ökonomie auswirken. In den USA entstehen bei Amazon über 100.000 Arbeitsplätze, weil die Leute nicht mehr einkaufen gehen. Das ist die sichtbare Seite der digitalen Welt. Die unsichtbare Seite ist die, dass noch mehr Daten- und Kontrollmacht produziert wird. Stichwort Bewegungsprofile mittels Handydaten.

STANDARD: Wir sind jetzt in der paradoxen Situation, dass wir Solidarität durch Distanz zu anderen praktizieren sollen. Wird diese von außen erzwungene Solidarität die Krise überdauern – oder hängt sie davon ab, wie lange das dauert?

Nassehi: Im Moment ist es noch relativ einfach, solidarisch zu sein. Es findet wahnsinnig viel Kommunikation statt. Es gibt auch sehr handfeste Solidarität, wo etwa in großen Mietkomplexen jüngere Leute Älteren beim Einkaufen helfen. Das ist auch sehr erwartbar. Leider ist auch erwartbar, dass, wenn die Dinge tatsächlich länger dauern, Egoismen eine größere Rolle spielen werden. Es gibt ja schon so kleine Hinweise darauf. Wenn man heute in öffentlichen Gebäuden Desinfektionsmittel nicht festschraubt, sind die nach zehn Minuten weg. Wir wollen nicht über Klopapier reden! (lacht) Aber wenn die Leute wirklich in Not sind, dann wird auch der Kampf um Ressourcen stärker. Und dann gilt: Der Firnis der Zivilisation ist dünner, als wir manchmal so denken. Wenn's wirklich ums Überleben geht, dann bleibt die Solidarität als Erstes auf der Strecke.

STANDARD: Wie lange kann eine Gesellschaft so etwas aushalten?

Nassehi: Eine Zeitlang werden wir das schon aushalten. Aber was ist, wenn das über Monate oder gar ein Jahr geht? Das ist ein Stresstest, der mindestens so hart ist wie jener für Unternehmen und politische Entscheider. Was man jetzt schon erwarten kann: Die Wahrscheinlichkeit von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder wird in dieser Situation sehr stark steigen, weil frühere Exit-Möglichkeiten wie einmal rausgehen weg sind. Insofern kann man an dieser Krise viel über den Normalzustand der Gesellschaft ablesen. Sie macht sehr viele Strukturen sehr viel sichtbarer. Denn diese Gewalt findet sonst ja auch statt.

STANDARD: Den romantischen Zugang zur Corona-Krise, wonach sie auch eine "Chance" sei für mehr Innerlichkeit, Reduktion und Entschleunigung, wie einige nun propagieren, teilen Sie also nicht?

Nassehi: Nein. Diese vor allem im linksliberalen Bereich ventilierte Idee, die ganze Sache noch zu romantisieren und zu sagen: "Ach, endlich können wir einmal zu Hause ganz zu uns selbst finden", ist Quatsch. Da freuen sich ein paar Intellektuelle, die privilegiert leben, über ihr idyllisches Schreibtischglück, aber das geht weit an der Lebensrealität der Gesellschaft vorbei. Ich kenne genügend Familien, die im Moment ganz andere Probleme haben, wenn drei Kinder zu Hause sind, die auch noch beschult werden müssen ... Diese Diagnose der Wiedergewinnung der Innerlichkeit bedeutet ja: Eigentlich leben wir sonst sehr uneigentlich. Also nicht so, wie wir eigentlich leben sollten: viel weniger auf uns selbst bezogen, viel weniger reflektiert.

STANDARD: Was entgegnen Sie?

Nassehi: Ich würde umgekehrt sagen: Eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften moderner Gesellschaften ist die Möglichkeit der Zerstreuung. Die Möglichkeit, sich nicht permanent mit sich selber beschäftigen zu müssen, nicht dauernd authentisch mit sich zu sein. Das werden wir nach der Krise wahrscheinlich sehr stark zu schätzen lernen. Zerstreuung und etwas wie Lebensfreude werden eine große Rolle spielen. Zum Beispiel Konsum, der im Moment heruntergefahren wird. Ein ökonomisch wichtiger Bereich. Warum kaufen wir so viel Zeug, das wir gar nicht brauchen? Die Leute laufen herum, ohne etwas Konkretes kaufen zu wollen. Das sind Zerstreuungsformen. Ich nenne es Langeweilebewirtschaftung für das Bewusstsein. Jetzt werden die Leute Langeweile erleben – und das ist was Schlimmes. Langeweile ist die Quelle von schlimmsten Dinge.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Kolumne "Montagsblock" auf der "Kursbuch"-Website besonders auf die Folgen für Familien hingewiesen, die einem besonderen Stresstest ausgesetzt werden. Vor allem das Thema Schule bzw. Schulsperren haben Sie behandelt. Warum?

Nassehi: Es gibt einen interessanten Rollenkonflikt: Ich bin gleichzeitig Vater und Lehrer. Für mich war das Schlimmste, wenn ich meinem Sohn Latein oder Mathematik beibringen sollte. Das waren immer die Punkte, an denen wir Streit bekommen haben. Jetzt gibt es eine starke Erwartung an Familien, über Homeschooling so zu tun, als könne man die Schulzeit zu Hause aufholen. Ich weiß das von vielen Freunden mit kleineren Kindern, die starke Aufgaben bekommen. Vielleicht sollte man da mal ein bisschen gelassener sein und sagen: Wenn Leute mal ein halbes Jahr nicht oder nur wenig beschult werden, dann geht die Welt nicht unter.

STANDARD: Allerdings verlieren Kinder aus sozial benachteiligten, "bildungsfernen" Familien in so einer Konstellation besonders viel.

Nassehi: Das ist die größte Gefahr von Homeschooling. Wir wissen aus der Forschung, dass die Kinder nach den Ferien wahnsinnig viel vergessen haben und dass dieses Vergessen einen starken Schichtindex hat. Kinder aus bürgerlichen, bildungsnahen Haushalten vergessen weniger als Kinder aus Milieus, die daheim nicht mit diesen Bildungsgütern zu tun haben. Das ist ein großes Problem, für das es kurzfristig eigentlich keine Lösung gibt. Das muss man hinterher wieder stark korrigieren. Ich wäre dafür, nicht so viel Schuldruck in die Familien hineinzulegen, weil die haben im Moment genug Druck.

STANDARD: Es sind zwar wenige, aber doch genug Unbelehrbare und Ignoranten, die sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen halten, sondern so tun, als wäre nichts. Sie haben angesichts dessen vom "autoritären Charakter" gesprochen...

Nassehi: Das Zentrum westlichen Denkens ist ja im Prinzip die "Einsicht in die Notwendigkeit", wie Hegel es nannte. Wir sollen frei sein, aber in unserer Freiheit das Richtige tun. Wir lassen unsere Kinder erst frei auf der Straße herumlaufen, wenn wir wissen, dass sie ihr Verhalten so einschränken, dass sie nicht einfach auf die Fahrbahn laufen. Darauf hat man bei der Steuerung der Corona-Krise auch gesetzt und es hat sich gezeigt: Die Leute haben sich zum Teil nicht um die Empfehlungen geschert, viele nehmen das Problem einfach nicht ernst und deshalb wird der Staat herausgefordert, sein Gewaltmonopol in Anspruch zu nehmen. Denn die Ausgangsbeschränkungen sind ja radikale Eingriffe in unsere Freiheitsrechte. Das ist die große Paradoxie derzeit: Eigentlich wollen die Leute frei sein, aber sie sind es offenbar nicht genug. Deswegen habe ich vom autoritären Charakter gesprochen, der sein Verhalten erst ändert, wenn es ausdrücklich befohlen wird.

STANDARD: Letztlich strapazieren die rigiden Anti-Corona-Maßnahmen auch die Demokratie ziemlich.

Nassehi: Ja, wobei wir uns große Illusionen machen, wenn wir glauben, Verhaltensänderung funktioniert über Einsicht. Im konfuzianischen China kommt man seltener auf die Idee der Einsicht in die Notwendigkeit. Da geht es um Durchsetzung autoritärer Maßnahmen im Gewande der "Harmonie". Aber wir sehen jetzt ja angesichts einer selbst kleinen Zahl Unbelehrbarer, dass manche Steuerung im Westen auch nicht über Vernunft oder Einsicht funktioniert, sondern am Ende doch über eine sehr direktive Form, die natürlich unserer liberalen Demokratie nicht guttut und für die, die die liberale Demokratie nicht wollen, ein gefundenes Fressen ist. Für Viktor Orbán in Ungarn ist das geradezu ein Gottesgeschenk, um bestimmte Dinge durchzudrücken. Das wird in anderen Ländern auch noch der Fall sein.

STANDARD: Könnte die Corona-Krise dennoch vielleicht eine "Lehre" beinhalten für die Zeit danach? Manche erklären das energische Vorgehen jetzt schon zur Blaupause für die Lösung der Klimakrise.

Nassehi: Ich hoffe inständig, dass wir aus dieser Krise nichts für die Bewältigung der Klimakrise lernen. Ich möchte auf keinen Fall, dass wir die Klimakrise mit solchen Mitteln lösen, das heißt mit der Suspendierung individueller Freiheitsrechte. Das funktioniert im Moment ja auch nur, weil es temporär ist. Wie bei Patienten. Wenn man im Spital liegt, übergibt man seine Autonomie ärztlichem und pflegerischem Personal, aber nur, weil man weiß, dass es bald vorbei ist. Das Gleiche gilt für Gesellschaften. Aber die Gesellschaft wird einiges aus der Corona-Krise lernen müssen. Etwa dass manche Strukturen im Gesundheitswesen von der öffentlichen Hand stärker vorgehalten werden.

Einer der größten Unterschiede zwischen Italien und Deutschland – für Österreich gilt Ähnliches – ist, dass wir viel mehr Intensivbetten haben pro 100.000 Einwohner. Das ist im Moment eine lebensverlängernde Maßnahme. Oder welche Forschungskapazitäten werden vom Staat bereitgehalten, die in der Grundlagenforschung für solche Krisen wichtig sind etc. Man kann aus solchen Krisen eine ganze Menge lernen, und es wird neue Vorsichtsmaßnahmen geben, aber es wird sich nicht die gesamte Gesellschaft verändern. Und auch die Globalisierung wird nicht verschwinden. Die Wertschöpfungsketten sind global und werden es bleiben. Darum ist die Idee, wieder kleiner und gemütlicher zu werden, eine Illusion. (Lisa Nimmervoll, 26.3.2020)