Im Gastkommentar ruft OECD-Generalsekretär Angel Gurría zu multilateralem Handeln auf.

Die Covid-19-Krise offenbart eklatante Schwächen in unseren Gesundheitssystemen.
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Die Corona-Pandemie fordert zahlreiche Todesopfer und verursacht großes menschliches Leid. Es ist eine Gesundheitskrise, wie wir sie noch nie erlebt haben. Sie stellt unsere kollektive Reaktionsfähigkeit auf eine harte Probe. Sie ist der dritte – und bislang größte – wirtschaftliche, finanzielle und soziale Schock des 21. Jahrhunderts, nach dem 11. September und der weltweiten Finanzkrise von 2008. Die ergriffenen harten Maßnahmen sind unerlässlich, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Sie versetzen unsere Volkswirtschaften jedoch in eine Schockstarre nie gekannten Ausmaßes. Es wird weder einfach sein, diesen Zustand zu überwinden, noch wird es von alleine gehen.

Wenn die schlimmste Phase der Gesundheitskrise überstanden ist, werden wir uns mit der Beschäftigungskrise auseinandersetzen müssen, die auf sie folgt. Schon lange vor dem Ausbruch der Epidemie waren strukturelle Schwächen der Weltwirtschaft deutlich geworden. Sie drohen nun den von Covid-19 ausgelösten Wirtschaftsabschwung zu verschlimmern. Hier geht es zum einen um die hohe Verschuldung des Unternehmenssektors und die Handelsspannungen zwischen den großen Volkswirtschaften.

Sehr bedenklich sind aber auch die Einkommens-, Vermögens- und Beschäftigungsungleichgewichte vieler Länder, die für einen erheblichen Teil der Bevölkerung zu einer Bedrohung werden könnten. Über ein Drittel der Haushalte im OECD-Raum lebt in finanziell unsicheren Verhältnissen: Sie würden in Armut abgleiten, wenn sie drei Monate kein Einkommen hätten. Die in den letzten Jahren stark gewachsenen Handelshemmnisse könnten nicht nur die Versorgung mit dringend nötigen medizinischen Gütern beeinträchtigen, sondern auch zu Störungen in den Lieferketten für die Produktion von Nahrungsmitteln und anderen wesentlichen Waren und Dienstleistungen führen. Damit steigt die Gefahr eines noch schlimmeren Verlaufs der Epidemie und einer noch tieferen und längeren Rezession.

Maßnahmen auf drei Ebenen

Dringend notwendig sind jetzt großangelegte Maßnahmen auf subnationaler, nationaler und internationaler Ebene. Diese Maßnahmen müssen sofort eingeleitet werden. Dabei gilt es, verschiedene Zeithorizonte und Notwendigkeiten zu berücksichtigen: Als Erstes muss unbedingt die Gesundheitskrise eingedämmt werden, zweitens muss die Wirtschaft wieder aufgerichtet und zum Laufen gebraucht werden, und drittens müssen neue Politikkonzepte erarbeitet werden, die es braucht, um die entstandenen Schäden zu beheben und für künftige Schocks besser gerüstet zu sein.

Die Covid-19-Krise hat eklatante Schwächen in unseren Gesundheitssystemen offenbart, angefangen bei der Zahl der Intensivbetten und der Personalausstattung über das Unvermögen einiger Länder, ausreichend Schutzmasken bereitzustellen oder Tests durchzuführen, bis hin zu Defiziten bei der Erforschung und Bereitstellung von Medikamenten und Impfstoffen.

Neben der unmittelbaren gesundheitspolitischen Reaktion braucht es entschlossene und ambitionierte Maßnahmen, um den Konjunkturabschwung abzufedern und besonders gefährdete Gruppen zu schützen. Dabei dreht sich alles um die Menschen: ältere und jüngere, Frauen und Männer, Menschen mit niedrigem oder keinem Einkommen, Menschen, die bereits davor in einer schwierigen Lage waren und nun am härtesten getroffen werden.
Nur wenn unverzüglich umfassende und koordinierte Maßnahmen ergriffen werden, kann der Wirtschaft ein rascher und kräftiger Neustart gelingen.

Mehr internationale Abstimmung

Erfreulicherweise wurden bereits viele maßgebliche Bemühungen und Initiativen angekündigt. Es ist jedoch mehr internationale Abstimmung notwendig, damit diese Initiativen die besten Resultate erzielen, die Märkte beruhigen und die besonders gefährdeten Länder stützen können. Die Abstimmung zwischen den Zentralbanken ist begrüßenswert; zudem haben die G7 in ihrer jüngsten Erklärung in kraftvollen Worten eine klare Richtung vorgezeichnet, und die Staats- und Regierungschefs der G20 treten nächste Woche per Videokonferenz zu einem Sondergipfel zusammen. Dennoch ist dringend eine wesentlich intensivere Abstimmung über die gesamte Bandbreite der Politikbereiche erforderlich.

Die OECD ruft die Staaten auf, durch umfangreiche, glaubwürdige und international abgestimmte Bemühungen für die notwendigen Ressourcen zu sorgen, um den akuten Gesundheitsnotstand zu bewältigen, den Konjunkturschock abzufedern und die Voraussetzungen für eine Erholung zu schaffen. Vier Bereiche sind dabei maßgeblich:

1. Die Staaten sollten die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Gesundheitskrise verstärken. Die Forschungskoordination auf diesem Gebiet ist beeindruckend. Sie muss jedoch durch Maßnahmen ergänzt werden, die dafür sorgen, dass Impfstoffe und Behandlungsmöglichkeiten so schnell wie möglich für die Bevölkerung bereitstehen. Wäre zur Zeit des Sars-CoV-1-Ausbruchs ein Impfstoff entwickelt worden, könnte nun schneller ein Impfstoff für das aktuelle Virus gefunden werden, da zwischen den beiden Viren eine 80-prozentige Übereinstimmung besteht. Jetzt sollten die Arzneimittelbehörden wie die FDA in den Vereinigten Staaten und die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zusammenarbeiten, um regulatorische Hürden für Impfstoffe und Arzneimittel zu beseitigen.

2. Die Regierungen sollten gemeinsam handeln, anstatt unkoordinierte Maßnahmen zu ergreifen. Sie sollten Soforthilfen finanzieren, um die negativen Auswirkungen auf die Konjunktur abzufedern und eine schnellere Erholung zu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem Sofortausgaben für folgende Maßnahmen:

Im Gesundheitswesen: umfassende Tests, Behandlung aller Patienten (auch Unversicherter), Unterstützung für Gesundheitsfachkräfte, Rückkehr von Ruheständlern in Gesundheitsberufe bei entsprechendem Schutz von Hochrisikogruppen, bessere Ausstattung mit Schutzmasken, Intensivbetten und Beatmungsgeräten.

Im Bereich der Arbeitskräfte: Kurzarbeit, niedrigere Hürden für den Bezug von Arbeitslosengeld, Geldleistungen an Selbstständige sowie Unterstützung besonders bedürftiger Gruppen.

Im Bereich der Unternehmen: Stundung von Steuer- und Abgabenschulden, vorübergehende Herabsetzung oder Aussetzung der Umsatzsteuer, besserer Zugang zu Betriebskapital durch Kreditlinien oder staatliche Bürgschaften, spezielle Hilfspakete für KMUs, insbesondere im Dienstleistungs- und Tourismussektor.

Wenn der Höhepunkt der Krise überwunden ist, sollte prioritär ein gut konzipiertes – und länderübergreifend abgestimmtes – Investitionsprogramm umgesetzt werden, das insbesondere Investitionen in Forschung, Entwicklung und Infrastrukturen im Gesundheitswesen umfassen sollte.

3. Die Zentralbanken haben bereits entschlossene Maßnahmen eingeleitet, um die Wirtschaft zu stützen; die Finanzmarktregulierung und -aufsicht ist jedoch ein weiterer Bereich, in dem Koordinierung zu besseren Ergebnissen führen könnte. Die durch die Covid-19-Krise verursachten wirtschaftlichen Verwerfungen treffen die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte sowie die Bankerträge und -bilanzen. Ein koordiniertes Vorgehen bei der Überwachung, der Diagnose aufkommender Spannungen und der Regulierung wäre viel effektiver als isolierte und nicht abgestimmte Reaktionen.

4. Wir müssen alles tun, um Vertrauen wiederherzustellen. Dafür ist es entscheidend, die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bringen. Es wäre jedoch auch hilfreich, die Faktoren anzugehen, die das Vertrauen bereits schwächten, bevor Covid-19 ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, insbesondere durch den Abbau von Handelsbeschränkungen.
Im Rahmen der Antwort auf diese Krise startet die OECD eine Plattform, die zeitnahe und umfassende Informationen über die Reaktionen der Länder weltweit bietet, in einigen Fällen verbunden mit Empfehlungen. Außerdem werden wir angesichts der Covid-19-Krise eine Reihe von Policy Briefs zu verschiedenen Themen wie Impfstoffe, Steuern, Bildung und KMUs veröffentlichen. Wir hoffen, dadurch den Regierungen zu helfen, in Echtzeit voneinander zu lernen, die Koordination zu erleichtern und zu den erforderlichen globalen Maßnahmen beizutragen, die ergriffen werden, um diese enorme kollektive Herausforderung zu bewältigen.

Nationale Grenzen

In unserer globalisierten Welt können viele Fragen nicht mehr innerhalb nationaler Grenzen behandelt werden, unabhängig davon, ob es sich um ein Virus, Handel, Migration, Umweltschäden oder Terrorismus handelt. Multilaterales Handeln führt zu positiven Spill-over-Effekten, von denen die Länder stärker profitieren, als wenn sie allein handeln.
Unsere Zielsetzung muss so ambitioniert sein wie der Marshall-Plan – in dessen Rahmen die OECD gegründet wurde –, und wir brauchen eine Vision, die dem New Deal entspricht, allerdings auf weltweiter Ebene. Mit kühlem Kopf, individueller und kollektiver Disziplin, erhöhtem Solidaritätsbewusstsein und gemeinsamem Engagement werden wir diese unerwarteten und schwierigen Herausforderungen bewältigen können. (Angel Gurría, 26.3.2020)