Daniel hat kein langes Leben mehr vor sich. Seine Sehnsucht war: "Einmal noch das Meer sehen." Aleida hat es möglich gemacht.

Foto: Michael Marchetti

Security-Mitarbeiter bewachen die Eingangstüren und kontrollieren das Personal. Das "Haus Döbling", ein Pflegeheim im 19. Wiener Gemeindebezirk, ist abgeriegelt, seitdem auch hier Corona-Fälle aufgetreten sind. Verwandte und Besucher können Päckchen für ihre Liebsten abgeben – das wäre dann alles. Berührungen, tröstende Worte – leider nein. Die Emotionen gehen hoch. "Frechheit!", zischt eine ältere Dame von der nahen Bank, als sich die Türen für Daniels Eltern öffnen. Sie fallen unter die Ausnahmeregelung, weil ihr Sohn auf der Palliativstation des Hauses liegt. Dort gilt wie in den Hospizen: Verabschieden darf man sich, aber nur bekleidet mit Latexhandschuhen, Gesichtsmaske und Schürze. Und einem Meter Mindestabstand. Außer man legt den kompletten Schutzanzug an, mit dem man aussieht wie in Science-Fiction-Filmen. Erforderlich wird das, wenn es bereits Corona-Fälle auf der Station gibt.

So oder so – Zärtlichkeiten sind praktisch unmöglich. "Er kann nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterscheiden", erzählt Daniels Mutter, "und er spricht mit Leuten, die gar nicht da sind". Dabei wären gerade Berührungen in dieser letzten Phase so wohltuend. Das weiß auch Aleida Bos, eine gebürtige Holländerin, die sich gerade zur ehrenamtlichen Hospizmitarbeiterin ausbilden lässt. Sie hat alles darangesetzt, Daniels letzten Wunsch zu erfüllen, nachdem sie vor einem Jahr im Gesundheitsmagazin CURE des STANDARD zufällig von seinem Schicksal gelesen hatte. So wurde die selbstständige Controllerin, Mutter zweier Kinder, zu Daniels Vertrauensperson. Klemmte sich ans Telefon, organisierte die Reise und fuhr gleich selbst mit.

Was davor geschah

Szenenwechsel: Amsterdam vor fünf Wochen. Die Welt ist eine andere. Tausende Schneeglöckchen und Krokusse blühen in den Parks entlang der Grachten. Der Wind bläst Schäfchenwolken tief über die Stadt, das braune Wasser kräuselt sich, Enten paddeln über die kleinen Wellen. Touristen auf Bänken halten Händchen und blinzeln in die Sonne. Perfektes Wetter für einen schnellen Städtetrip.

Die Hecktür des Ambulanzwagens geht auf, dahinter eine Trage auf Rollen. Zwei, drei Handgriffe, dann ist sie aufgeklappt. Darauf liegt Daniel, atmet die frische Luft und saugt alles ein. Das Zwitschern der Vögel, die Farbe des Himmels, die Wärme des Frühlings.

Schnell geht bei ihm schon lange nichts mehr. Daniel ist "terminal", so heißt das in der Fachsprache. Er könnte in der kommenden Nacht sterben oder in ein paar Tagen, vielleicht Wochen, so genau weiß das niemand.

33 Operationen und sieben Chemotherapien hat er hinter sich, eine Karriere des Leidens. Die Diagnose: Nierenkrebs im Endstadium. Daniel liegt auf der Trage, die Beine festgeschnallt, umklammert seinen Rucksack mit der Tafel Milchschokolade drin, dem CD-Player mit Mozarts Jupiter-Symphonie, den Schmerztabletten.

Großes Aufsehen

Als hätte er Sorge, er könnte verlorengehen, während man ihn auf das Boot lädt. Es ist leer, nur Kapitän und Steuermann sind an Bord. Neugierig beobachten Touristen vom Ufer aus den ungewöhnlichen Anblick, einige machen Fotos. Rätselraten. Ob das ein Prominenter ist? Ein medizinischer Notfall?

Nichts von alldem: Daniel lebte lange ein normales Leben. Er war ein gutaussehender, kräftiger junger Mann mit strahlend blauen Augen, der Elektrotechnik gelernt hatte, Didgeridoo spielte und gern feierte, bis er vor zehn Jahren bei einem Unfall aus einem Fenster im dritten Stock auf den Asphalt stürzte. Damals war er Mitte 20.

Seither ist er querschnittgelähmt, seine Wirbelsäule ist mit Titanstücken gestützt, im Kopf hat er eine Metallplatte. Er verlor seine Arbeit, dann die Kollegen und die Freundin. Dafür entdeckte er Mozart, Aristoteles und Stephen Hawking. Vor zwei Jahren der beginnende Krebs. Diese Reise wird seine letzte sein.

Daniels letzter Wunsch

Jetzt hält Aleida Bos Daniels Hand, während das Boot langsam durch die Prinsengracht schippert. Eine Frauenstimme kommentiert auf Deutsch aus dem Lautsprecher das Geschehen, Radfahrer klingeln, das Anne-Frank-Haus zieht vorbei, eine Schülergruppe mit bunten Rucksäcken lachend und schnatternd vor dem Eingang.

Das Van-Gogh-Museum stand auch auf Daniels Amsterdam-Programm.
Foto: Michael Marchetti

In Holland hat die Erfüllung letzter Wünsche eine fast 15-jährige Geschichte, die Ursprünge klingen wie ein Weihnachtsmärchen: Der mehr als zwei Meter große Rettungsfahrer Kees Veldboer sollte in Rotterdam einen sterbenskranken Patienten verlegen, der zuvor Wochen im Spitalsbett verbracht hatte.

Weil es ein schöner Novembertag war, machten die beiden unterwegs spontan eine Pause am Hafen. Der Patient war Seemann gewesen, redete davon, wie schön es wäre, einmal noch ein Schiff zu besteigen. Veldboer organisierte für ihn heimlich ein paar Tage später eine Hafenrundfahrt.

Ambulance Wens, zu deutsch Wunschrettung, war geboren. Kees Veldboer sagt, das Schönste, was man tun könne, sei, Wünsche zu erfüllen. Man glaubt es ihm, er macht das mittlerweile hauptberuflich. Die Idee hat nicht nur sein eigenes Leben verändert: Tausende letzte Wünsche hat er schon erfüllt, die Spenden dafür trommelt er auch selbst zusammen. "You just have to do it!", sagt er und grinst.

Jeden Moment genießen

Daniel will die Menschen ermutigen, jeden Moment zu genießen. Er sagt, er konzentriere sich auf das Jetzt. "Die Frage war: Lasse ich mich therapieren bis zum letzten Atemzug, oder mache ich noch einmal eine Reise?" Natürlich strengt ihn das an. Allein die Fahrt nach Amsterdam hat 15 Stunden gedauert, auch der Bootsausflug geht nicht ohne Schmerztabletten zwischendurch. Er nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche und stöhnt vor Erleichterung, als er sich umlegt.

Und trotzdem: "Jeder Tag, an dem ich aufwache und atme, ist wie Weihnachten", sagt er. Spricht langsam und leise. Manchmal, wenn das Boot reversiert, hört man seine Stimme kaum. Welche Frage ihn beschäftigt? "Ob ich mir selbst genüge." Was wichtig ist im Leben? "Zufriedenheit."

Im Museum

Next Stop: Van-Gogh-Museum. Kees Veldboer hat Daniel eine Führung organisiert. Die Zeit drängt. Der Lift auf "Priorität", die Türen gehen auf, Ordner rufen "Careful please!", die anderen Besucher weichen überrascht zur Seite. Daniel wird auf seiner Trage vor die weltberühmten Bilder geschoben. Hunderte Augenpaare folgen ihm. Flüstern, Tuscheln.

Der Schädel mit brennender Zigarette, das Selbstbildnis mit Strohhut und Pfeife, Van Goghs Schlafzimmer in Arles und dann – die Sonnenblumen! Da strahlen sie, in der Mitte des verdunkelten Raumes, kunstvoll beleuchtet.

Mit einem Mal scheint die Hektik vergessen, die Zeit aufgehoben. Still liegt Daniel da und umarmt Aleida. Die anderen Besucher beobachten sie gerührt. Allein für diesen Moment hat sich die Reise gelohnt.

Ohne Bürokratie

Ambulance Wens erfüllt jeden Tag solche Wünsche, noch keinen einzigen hat man abgelehnt: Man bringt Reiter noch einmal zu ihrem Lieblingspferd in den Stall, Ehepartner ans Meer, wo sie einander kennenlernten, einen Teenager zum Matterhorn oder eine Frau auch einfach nur noch einmal aus dem Spital nach Hause. Schiebt sie vorsichtig in ihr Wohnzimmer und lässt sie dort in Ruhe Abschied nehmen von dem Ort, an dem sie Jahrzehnte verbracht hat.

Manchmal so spontan, dass nicht mehr als drei Stunden vergehen zwischen dem Anruf im Büro der Stiftung und dem Losfahren der ehrenamtlichen Helfer in einem der sieben gelben Rettungswagen.

Daniel ist müde und schläft zum Plätschern der Wellen immer wieder ein.
Foto: Michael Marchetti

In Österreich versucht der Samariterbund Ähnliches, manches gelingt, vieles scheitert bei uns aber an der Bürokratie. Hier fehlt eine Genehmigung durch den Chefarzt, dort eine Unterschrift – man will sich absichern und verpasst dadurch das Wesentliche. Allerdings fehlt vielen Patienten auch schlicht das Wissen, dass solche Wunschfahrten überhaupt möglich sind.

"Schaut her, so einfach geht das!", scheinen die Holländer zu sagen, als sie mit dem Rettungswagen rückwärts in den Sand Richtung Wellen fahren. Wir sind am Strand von Zandvoort, 30 Kilometer westlich von Amsterdam. Man riecht das Meer, spürt das Salz, die Luft ist feucht und klebrig, die Sonne steht bereits tief am Horizont.

Am Strand

Spaziergänger mit Hunden, Kinder toben auf einem Sandhügel, der Wind bläst, Fahnen wehen, Wellen rollen ans Land. Es ist jetzt deutlich kühler. Daniel setzt sich die Mütze auf, seine Nase rinnt, er lächelt. Minutenlang blickt er aufs Meer und schweigt. Immer wieder schließt er die Augen, man weiß nicht genau, ob aus Hingabe oder Müdigkeit. So viele Eindrücke, die er verarbeiten muss.

"Am liebsten würde ich mich von den Wellen forttragen lassen", murmelt er. Auch er ist nicht immer stark, auch er hat diese Momente, in denen er keine Antwort mehr auf das Warum findet. Er hat eine offizielle Erklärung ausgefüllt, dass er nicht wiederbelebt werden möchte, falls er auf der Reise das Bewusstsein verliert.

Welle für Welle bricht vor seinen Augen, und langsam legt sich die Abenddämmerung über die niederländische Küste. Zeit zu gehen. Oberhalb an der Straße ist eine hellerleuchtete Fischbude. Aleida schlägt spontan einen Stopp vor, die zwei holländischen Fahrer machen gerne mit.

Im Meeresrauschen

Noch einmal öffnen sie die Tür des gelben Rettungswagens, die Rolltrage wird vor die Budel geschoben. Die beiden Verkäufer sind kurz perplex, dann nehmen sie freundlich die Bestellung entgegen. Es gibt hier dutzende Fischsorten, ganz frisch: gebacken, gegrillt, mit verschiedenen Saucen, Kartoffeln, Fritten oder Zwiebelringen. Daniel probiert "Kibbeling", so nennen die Holländer den gebackenen Kabeljau. Und so stehen wir, ein kleines Grüppchen mit einem Mann auf einer Trage, vor der Vitrine und lassen es uns schmecken.

Plaudern über den Tag, gute Laune, Lachen, Entspannung. Ein deutsches Pärchen stellt sich dazu, ganz selbstverständlich, niemand stellt Fragen. Und Daniel? Mittendrin im Leben, die Sauce in den Mundwinkeln, bevor er vor Müdigkeit einschläft, das Meeresrauschen und den Wind in den Ohren.

Nachsatz: Daniel ist knapp vor Ausbruch der Corona-Epidemie nach Wien zurückgekehrt und in der Nacht von Montag auf Dienstag gestorben. Aleida war bis zuletzt bei ihm. Sie hat ihm den Artikel in der Zeitschrift "Cure" vorgelesen, dem er aufmerksam zugehört hat. Bei der Stelle, an der es um die Zufriedenheit geht, hat er zustimmend genickt, und die Beschreibung vom Strand wollte er zweimal hören. Kurz nach Mitternacht hat er zu atmen aufgehört. (Michael Marchetti, CURE, 3.4.2020)