Auf dem Chromosom 5 ist die motorische Entwicklung verankert. Auf diesen Genabschnitt zielen Therapien ab.

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Es hat lang, sehr lang gedauert. Doch 20 Jahre nach der Entschlüsselung des Genoms ist es nun endlich so weit. Bisher tödlich verlaufende genetische Erkrankungen lassen sich durch eine gezielte Manipulation des Erbguts behandeln.

Dafür schickt man manipulierte Viren in den Körper, die krank machende Genabschnitte lahmlegen und durch intakte ersetzen. An dieser Vision haben Wissenschafter in den letzten zwei Jahrzehnten auf Hochtouren gearbeitet – für einige wenige Erkrankungen wird das nun Realität.

Eine davon ist die spinale Muskelatrophie (SMA), konkret: deren allerschwerste Form mit der diagnostischen Bezeichnung SMA-1. Babys, die mit einem Gendefekt auf dem Chromosom 5 geboren werden, haben ein kurzes Leben. Während bei gesunden Kindern die sogenannten Motoneuronen in den ersten beiden Lebensjahren dafür sorgen, dass Säuglinge lernen, ihren Kopf aufrecht zu halten, zu sitzen, zu stehen und schließlich zu laufen, findet diese Entwicklung bei SMA-Kindern einfach nicht statt. Ihrem Organismus fehlt ein Schlüsselprotein, nämlich das für die Entwicklung von Motoneuronen.

Fehlender Muskeltonus

Das merken Kinderärzte wie Günther Bernert, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Sozialmedizinischen Zentrum Süd, meist sehr bald durch den fehlenden Muskeltonus der Babys gleich nach der Geburt. Floppy-Baby-Syndrom wird die Erbkrankheit auch genannt.

"Es sind immer schreckliche Schicksale", sagt Bernert, der in seiner langen Laufbahn einige dieser Patienten betreut hat. Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung mit unterschiedlichen Formen (siehe Wissen unten). Eines von 10.000 Kindern ist betroffen. Und immer hatten ihre Eltern keine Ahnung, dass sie Träger einer genetischen Mutation sind.

Der Zustand der Babys mit SMA verschlimmert sich mit den fortschreitenden Lebensmonaten. Wenn die Nervenzellen keine Impulse an die Muskeln weiterleiten, verkümmern diese. Auch das Schlucken und Atmen wird durch die Krankheit immer schwerer – die Kinder ersticken meistens, bevor sie das zweite Lebensjahr erreicht haben.

Ein Medikament, das einen solchen tragischen und tödlichen Verlauf durch eine einzige Infusion aufhalten kann, ist deshalb tatsächlich eine medizinische Sensation. Zolgensma ist der sperrige Namen für eine Gen-Ersatztherapie, die das pharmazeutische Unternehmen Avexis, eine Tochter des Schweizer Pharmariesen Novartis, entwickelt hat.

Eine Infusion

Es ist eigentlich weniger ein Medikament als vielmehr ein gezielt modifizierter Virus, der die Motoneuronen im Rückenmark ansteuert, in die Zellen eindringt und dort gesunde Gene im Zellkern zurücklässt. Der Körper kann dann das Protein bilden, das SMA-Patienten fehlt.

Babys, die diese Therapie unmittelbar nach der Geburt bekommen, entwickeln sich sogar nahezu gleich wie gesunde Kinder. Ihre Nervenzellen feuern Impulse ab, die Motoneuronen leiten diese an die Muskelfasern weiter, die ihrerseits dadurch wachsen und es ermöglichen, dass die Kinder sitzen, stehen und laufen lernen.

In den USA ist Zolgensma seit Mai 2019 zugelassen, in der EU seit Mitte Mai. Aus den Ergebnissen der klinischen Studien war ersichtlich, wie gut die Gen-Ersatztherapie funktioniert. Weltweit konnten rund 400 Kinder von dieser revolutionären Form der Behandlung profitieren. "Je früher nach der Geburt sie die Therapie bekommen, umso normaler ihre Entwicklung. Das ist wirklich ein Durchbruch", sagt Kinderarzt Bernert.

Es reicht eine einzige Infusion, Nebenwirkungen lassen sich gut in den Griff bekommen. Und insgesamt wäre das alles eigentlich Jubelmeldungen wert. Doch es gibt einen großen Nachteil –und das ist der Preis der Therapie. Eine einzige notwendige Gabe der Gen-Ersatztherapie kostet fast über zwei Millionen Euro. SMA ist zwar eine seltene Erkrankung, doch solche Therapiekosten haben das Zeug, die Budgets der solidarisch finanzierten Gesundheitssysteme zu sprengen.

Harmlose Erkältungsviren

Dass Viren das menschliche Genom verändern, ist ein grundlegendes Prinzip der Evolution. In den vergangenen Jahren haben Wissenschafter herausgefunden, wie man zum Beispiel harmlose Erkältungsviren so manipulieren kann, dass sie erstens keinen Schnupfen auslösen und zweitens als eine Art Transportmittel für neue genetische Information fungieren können.

Sogenannte Adeno-assoziierte Viren (AAV) tragen einen Nachbau des funktionierenden Gens in sich, das SMA-Kindern fehlt. Sie finden die Motoneuronen, docken an, und damit startet die Produktion des entsprechenden Proteins. Was irgendwie einfach klingt, ist das Ergebnis einer langen und zähen Forschungsarbeit, bei der mit verschiedenen Viren verschiedene Ansätze verfolgt wurden.

Auch die Herstellung dieser Gen-Ersatztherapie ist um viele Dimensionen aufwendiger und komplizierter als herkömmliche Medikamente. Schließlich arbeitet man mit dem Baukasten der Evolution – da ist auch die Herstellung der Infusionen selbst Pionierarbeit.

Je früher, umso besser

Und weil man nicht nur therapeutisch, sondern auch auf der Herstellungsebene solcher Medikamente Neuland beschreitet, ist die Gen-Ersatztherapie Zolgensma in den USA deshalb auch nur für Kinder mit SMA-1 bis zum zweiten Lebensjahr zugelassen, weil sie – das haben klinische Studien gezeigt, – davon sehr profitieren.

Da Zolgensma gleich unmittelbar nach der Geburt am effektivsten ist, sprechen sich viele Kinderärzte dafür aus, sämtliche Neugeborene hinsichtlich einer Mutation auf dem Chromosom 5 zu checken.

Eine der Besonderheiten des Genoms ist jedoch seine Vielfalt. Gene sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich reguliert. Das ist auch der Grund, warum Krankheiten unterschiedlich verlaufen. 60 Prozent aller SMA-Patienten haben die schwere Verlaufsform, die SMA-1, doch 40 Prozent eine leichtere Variante, das heißt, sie bilden zwar das Eiweiß, das für die nervliche und muskuläre Entwicklung notwendig ist, aber nicht in ausreichender Menge.

"Die spinale Muskelatrophie ist zwar eine monogenetische Erkrankung, doch es gibt minimale Unterschiede in der Regulierung, die sich durch die verschiedenen Allele ergeben", erklärt Wolfgang Schmidt, Genetiker am Institut für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Universität Wien.

Das Genom lässt sich durch speziell präparierte Viren verändern. Sie könnten zu zukunftsweisenden Therapeutika werden.
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Bei den weniger schwer verlaufenden Formen der SMA ist seit 2016 ein Medikament zugelassen, das die Gen-Expression des fehlenden Proteins ankurbelt. Spinraza wird per Lumbalpunktion ins Rückenmark gespritzt. Das schwächt die Erkrankung zwar ab, kann sie aber nicht rückgängig machen.

"Die Gen-Ersatztherapie könnte aber auch eine Option für diese Patientengruppe sein, auch wenn die Erfolge nicht so beeindruckend wie bei einer frühen Gabe sein würden", sagt Bernert. Zolgensma wäre aus medizinischer Sicht also durchaus auch eine Alternative zur derzeit zugelassenen Therapie mit Spinraza.

Und auch diese bereits zugelassene Therapie ist kostspielig: 600.000 Euro kostet die Therapie im ersten Lebensjahr, jedes weitere Jahr 300.000 Euro, je nach Zustand des Kindes. "Es sind unterschiedliche Therapien, man kann sie deshalb auch gar nicht miteinander vergleichen", sagt Hardo Fischer, medizinischer Leiter von Avexis Österreich, der auch die Preise vergleicht. Nach den ersten sieben Lebensjahren sind die beiden Therapien rein kostentechnisch gleich auf.

Knackpunkt Kosten

Am Ende sind es die hohen Kosten, die in Deutschland eine Diskussion entfacht haben. Ein Anwalt klagte das Recht auf das neue Medikament für SMA-Betroffene ein. Da das Medikament in Europa erst noch zugelassen werden muss – und auch dann nur für die Patientengruppe bis zum zweiten Lebensjahr –, fürchtete man Lieferengpässe aufgrund der aufwendigen Herstellung.

Kurzerhand entschloss sich der Mutterkonzern, 100 Dosen des Medikaments in Form eines Managed-Access-Programms zur Verfügung zu stellen, das heißt: Patienten bekommen es kostenlos. Eine externe Ethikkommission sollte entscheiden, welche Patienten ausgewählt werden. Anfang Februar kursierten denn auch plötzlich Gerüchte, Novartis würde eine Art Lotterie zu Marketingzwecken für die Gen-Ersatztherapie veranstalten.

"Diese Aktion war nie so geplant", sagt Hardo Fischer und räumt ein, dass hier nicht detailliert und ausführlich genug kommuniziert wurde. Man habe lediglich betroffenen Familien diese Therapie zur Verfügung stellen wollen – auch dann, wenn sich die Gesundheitssysteme, in denen diese Menschen versichert sind, die Summe von fast zwei Millionen Euro nicht leisten können.

Nach Jahren der Entwicklungs- und Forschungsarbeit könnte es also sein, dass ein neuartiges Medikament, das eine tödliche Erkrankung aufhalten kann, also vielleicht gar nicht zum Einsatz kommt, weil es an der Finanzierung scheitert. "Für einen breiten Einsatz vor der Zulassung fehlen uns derzeit noch die Produktionskapazitäten", betont Fischer noch einmal.

Eine Nebenwirkung der Gentherapie scheint es zu sein, dass sie auch ganz unerwartete ethische Fragen aufwirft, für die das System nicht gerüstet zu sein scheint. Die Corona-Krise wird die Situation nicht verbessern. (Karin Pollack, CURE, 7.6.2020)


Update: Dieser Artikel ist am 4. April in Cure, dem Gesundheitsmagazin des Standard, erschienen und wird erst jetzt online veröffentlicht. Mitte Mai hat Avexis die Zulassung für das Medikament Zolgensma (Wirkstoffname: Onasemnogene Abeparvovec) in Europa erhalten. Kindern, die mit SMA 5q und einer biallelen Mutation im SMN-1-Gen und bis zu drei Kopien des SMN-2 geboren werden, kommen für eine Therapie in Frage.

Für Risdiplam hat die Herstellerfirma Roche kürzlich ebenfalls neue Daten zur Wirksamkeit publiziert. In der Firefish-Studie Part 2 wird der Effekt des Medikamentes dokumentiert. Die Zulassung des Medikaments ist für 2021 geplant.

Originalpublikationen:

Onasemnogene Abeparvovec-xioi Gene-Replacement Therapy in Presymptomatic Spinal Muscular Atrophy: SPR1NT Study Update

FIREFISH Part 2: Efficacy and Safety of Risdiplam (RG7916) in Infants with Type 1 Spinal Muscular Atrophy