"Die Immunonkologie hat definitiv viel Potenzial. Wir nutzen bisher aber nur die Spitze des Eisbergs." Onkologe Wolfgang Hilbe
Foto: Getty Images / iStock / vasiliki

Die Sterblichkeit bei Krebs ist in Österreich dank einiger Fortschritte in Therapie und Diagnose in den letzten 25 Jahren um zirka 25 Prozent zurückgegangen. "Bei der Behandlung von fortgeschrittenem Krebs wird zunehmend das Ziel verfolgt, den Krebs zu chronifizieren und den Patienten zu stabilisieren, statt ihn "auf Teufel komm raus" mit aggressiven Zellgiften zu eliminieren", sagt der Onkologe Wolfgang Hilbe vom Wiener Krankenanstaltenverbund und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (OeGHO).

Wolfgang Hilbe ist überzeugt, dass sich die Therapiesituation in den nächsten Jahren noch weiter verbessert – "dank eines unglaublichen Tsunamis an Wissen". Der Wissenszuwachs und die zahlreichen neuen Medikamente stellen die Mediziner aber auch vor große Herausforderungen. So müssen neue Substanzen nun in die Routine implementiert werden."

Diese Innovationen seien möglich, so der Wiener Onkologe, weil die forschenden Unternehmen weltweit vernetzt agieren. Die Dynamik ist so groß, dass alle sechs bis zwölf Monate die Leitlinien wieder neu anzupassen sind.

Verlängerte Überlebenszeit

Zu den Standardtherapieoptionen wie Chemotherapie und Strahlentherapie kamen vor etwa 15 Jahren erste zielgerichtete Antikörper gegen Zielstrukturen (EGF-Rezeptor, HER-2-Rezeptor) auf den Tumorzellen hinzu. "Das eröffnete die Möglichkeit, den Tumor zunächst mit Chemotherapie zu verkleinern und dann den Krebs mit Antikörpern unter Kontrolle zu halten", erklärt Hilbe.

Die Brustkrebstherapie ist ein gutes Beispiel. Sie hat mit einer Ausnahme sehr von der Identifikation von Zielstrukturen profitiert: Werden die Brustkrebsuntergruppen hormonsensitiv und HER-2-Rezeptor-positiv in einem frühen Stadium entdeckt, dann sind die Überlebensraten inzwischen zumeist sehr gut.

"Etwa 85 Prozent der Frauen, die im Frühstadium diagnostiziert werden, sind in den nachfolgenden zehn bis 15 Jahren krebsfrei. Die überwiegende Mehrzahl der Frauen sind nach der Operation sogar ganz geheilt", so der Brustkrebsexperte Prof. Christian Singer, Leiter des Brustgesundheitszentrums der Medizinischen Universität Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Senologie.

Ersehnte Wende

"HER-2-Rezeptor-positiver Brustkrebs war früher eine Katastrophe. Der Antikörper gegen den Rezeptor brachte dann die ersehnte Wende." Haben sich zum Zeitpunkt der Diagnose bereits Metastasen gebildet, was bei zehn bis 15 Prozent der Fall ist, oder bilden sie sich später, ist Brustkrebs derzeit nicht heilbar. "Aber die Überlebenszeit hat sich auf etwa sechs Jahre verlängert", betont Singer.

Beim fortgeschrittenen hormonsensitiven Brustkrebs erfolgt eine Antihormontherapie inzwischen kombiniert mit noch relativ neuen Medikamenten, den sogenannten CDK4/6-Hemmern. "Das ist eine Behandlungsstrategie, die mittlerweile ebenfalls zu einer deutlichen Verlängerung des Gesamtüberlebens führt."

Auch beim früher im fortgeschrittenen Stadium besonders schlecht behandelbaren Tripel-negativen Brustkrebs gab es Fortschritte. "Er kann inzwischen wirksam bekämpft und die Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung deutlich verlängert werden", sagt Singer.

Immuntherapien öffnen neue Türen

Einen Hype unter Onkologen lösten in den letzten fünf bis sechs Jahren die Krebsimmuntherapien aus. Dabei geht es um Checkpoint-Inhibitoren, die das körpereigene Immunsystem gegen den Tumor aktivieren. Den versteckten Tumorzellen wird die Tarnkappe weggenommen. "Der Lungenkrebs von Rauchern spricht wie auch das maligne Melanom, ein Hautkrebs, sehr gut darauf an und verlängert das Überleben", sagt Hilbe.

Beim malignen Melanom werden mit dieser Immuntherapie 20 Prozent der Patienten zu Langzeitüberlebenden. "Auch bei Nierenkrebs und teilweise bei Prostatakrebs sind die Checkpoint-Inhibitoren erfolgreich", berichtet die Krebsforscherin Maria Sibilia, die das Institut für Krebsforschung und interimistisch das CCC leitet. Bei einer anderen Variante der Immuntherapie, der CAR-T-Zell-Therapie, werden T-Zellen aus dem Körper entnommen und im Labor gentechnisch scharfgemacht, quasi auf Tumorstrukturen abgerichtet, und dann dem Körper wieder zugeführt.

Noch schlagkräftiger

"Die Immunonkologie hat definitiv viel Potenzial. Wir nutzen bisher aber erst die Spitze des Eisbergs", betont Hilbe. Deshalb suchen die Forscher ständig nach Möglichkeiten, die Immuntherapie noch schlagkräftiger zu machen. "Bislang ging es vor allem darum, die T-Zellen scharfzumachen. Aber auch Antigen-präsentierende Immunzellen wie die Makrophagen müssen einbezogen werden."

Eine Option ist, dass Krebszellen abgetötet werden und dabei ihren Zellinhalt, darunter Tumor-Antigene, freisetzen. "Sie triggern eine Immunantwort. Ein auf diese Weise zusätzlich aktiviertes Immunsystem verbessert auch die Wirkung der Krebsimmuntherapie", sagt Sibilia. "Sowohl die Kombination aus Strahlentherapie und Immuntherapie als auch aus Chemo- bzw. zielgerichteter Therapie und Immuntherapie haben genau diesen Effekt, denn beide, Chemo- und Strahlentherapie töten Krebszellen ab."

Verbesserte Diagnostik

Es gab aber in den vergangenen zehn bis 20 Jahren nicht nur Fortschritte bei der Therapie. "Eine verbesserte Diagnostik ermöglicht das Entschlüsseln von Mutationsmustern und damit die Einteilung einer Krebsart in Untergruppen, die unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen erfordern", sagt der Hämatologie-Professor Ulrich Jäger von der Medizinischen Universität und dem Allgemeinen Krankenhaus Wien.

All diese Fortschritte machen bereits jetzt – und künftig noch häufiger – eine personalisierte Therapie mit noch besseren Ergebnissen für die Patienten möglich. "Wir kennen mittlerweile 20 Subtypen des nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms. Früher musste der Arzt nur zwischen kleinzellig und nichtkleinzellig unterscheiden", erzählt Wolfgang Hilbe begeistert von den Optionen, die sich daraus ergeben.

Was ist mit den gegebenen Therapieoptionen machbar? Es sind zwei Entwicklungen zu unterscheiden: "Es gibt einige Krebserkrankungen, die mit den herkömmlichen Therapien für mindestens fünf Jahre verschwinden, d. h. geheilt sind. Und es gibt Krebsarten, die früher tödlich waren und die wir heute zu chronischen Erkrankungen machen können mit fast normalen Überlebenschancen", sagt der Experte für Blutkrebserkrankungen.

Die Immunonkologie hat die Therapie einiger solider Tumoren nun zusätzlich verbessert. Dazu gehören außerdem der bereits erwähnte Lungenkrebs und das maligne Melanom, etwa auch Brustkrebs, das Prostatakarzinom und Hals-Nasen-Ohren-Tumoren.

Ersatz für Chemotherapie

Auch bei einer Untergruppe des Dickdarmkarzinoms gibt es dank der Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren gewisse Fortschritte. Bei der betreffenden Untergruppe liegen genetische Veränderungen in DNA-Reparaturgenen vor. "Wird deshalb die DNA nicht repariert, häufen sich veränderte Eiweißprodukte an. Man spricht von einem erhöhten ‚mutational load‘. Je größer diese Mutationslast ist, desto besser wirkt die Immuntherapie", erklärt Sibilia.

Zu den Erfolgsgeschichten zählt die aggressive Krebserkrankung Morbus Hodgkin. Sie betrifft insbesondere viele junge Leute. Die Heilungschancen liegen derzeit bei 80 Prozent und mehr. Ist die Ersttherapie ein "Treffer", dann lassen sich Resistenzen vermeiden, die die Therapie ansonsten verkomplizieren.

Bild nicht mehr verfügbar.

Gut mit und trotz der Erkrankung leben: Das ist eine der größten Herausforderungen für Krebspatienten und -patientinnen – jeden Tag wieder aufs Neue.
Foto: Getty Images / Westend61

"Inzwischen ersetzen wir die aggressive Chemotherapie nach und nach durch neue Medikamente wie Antikörper und Checkpoint-Inhibitoren, die weniger toxisch sind, aber gleich gute Langzeiteffekte haben", sagt Ulrich Jäger. "Bei den aggressiven B-Zell-Lymphomen, den häufigsten Tumoren des Lymphgewebes, ist es möglich, jeden Zweiten durch die Kombi aus begrenzter Chemo- und Antikörpertherapie zu heilen."

Bei 30 Prozent sind die Chancen dagegen gering, die Erkrankung zu überstehen. "Der Krebs wird nämlich resistent, sodass es innerhalb der ersten beiden Jahre nach einer Therapie zum Rückfall kommt", erzählt der Wiener Blutkrebsexperte.

Rückfall und Bedeutung

Die Überlebenschancen lassen sich aber auch im bei einem Rückfall noch verbessern. "Anhand des Mutationsmusters, das bei einer Krebsart vorliegt, ist es nämlich inzwischen möglich, mehrere neue Untergruppen beim B-Zell-Lymphom zu unterscheiden.

Wir kennen aber noch nicht alle Gruppen im Detail." Das eröffnet die Möglichkeit einer "personalisierten" Therapie, also in diesem Fall die Kombination aus Chemotherapie und einem passenden Antikörper oder "kleinen Molekül".

Neuerdings ist auch die Therapie mit der sogenannten CAR-T-Zelltherapie möglich. "Früher hat nur jeder fünfte der Rückfallpatienten überlebt. Inzwischen ist es uns mit der Zelltherapie gelungen, diesen Prozentsatz zu verdoppeln", sagt Jäger begeistert.

Täglich eine Pille

Eine Chronifizierung wird auch beim nichtaggressiven sogenannten indolenten Lymphom angestrebt. "Es sind zeitbegrenzte Therapien möglich, oder der Patient schluckt täglich eine Pille, um die Erkrankung zu unterdrücken", so Jäger.

Nicht jedem Patienten kommen die Fortschritte zugute, da es eine fortgeschrittene Diagnostik hauptsächlich in großen Zentren gibt. Deshalb ist es wichtig, dass Ärzte in kleineren Spitälern jene Patienten mit einem frühen Rückfall oder einem außergewöhnlichen Mutationsmuster unbedingt in eines der großen Zentren schicken.

"Und diese Risikopatienten sollten sich nicht scheuen, gezielt nach klinischen Studien zu fragen, an denen sie teilnehmen können", ermutigt Ulrich Jäger Erkrankte. Das mag nach Versuchskaninchen klingen, ist aber als Chance auf eine topaktuelle und möglicherweise lebensrettende Behandlung zu sehen. (Gerlinde Felix, CURE, 29.5.2020)