Roi Shternin setzt sich für eine Stärkung der Patientenrechte ein. Weil Betroffene am besten wissen, was sie brauchen.

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Die Corona-Krise macht sie zu Stigmatisierten: die chronisch Kranken. Manche Medienberichte zeichnen sie als schwache Glieder der Kette, die dafür verantwortlich sind, dass sich alle zurücknehmen müssen. Zugleich müssen sie zittern, ob Medikamente und Pflegepersonen auch morgen noch verfügbar sind.

Das alles könnte ganz anders sein, ist Roi Shternin überzeugt. Der 36-jährige Israeli sieht eine chronische Krankheit sogar als besondere Stärke. "Wer sich jahrelang mit seiner Krankheit auseinandersetzt und Wege findet, um sich im Medizin-Dschungel zurechtzufinden, eignet sich Kompetenzen an, die anderen fehlen", meint Shternin. "Chronisch Kranke sind die perfekten Unternehmer."

Innovationsprozesse anstoßen

Shternin weiß, wovon er spricht. Er ist selbst chronisch krank und ist mehrfacher Unternehmensgründer. Im Vorjahr war er sechs Monate lang "Patient in Residence" am Open-Innovation-in-Science-Center des Ludwig-Boltzmann-Instituts in Wien, um Medizinern, Krankenhausmanagern und Wissenschaftern etwas über seine Erkenntnisse im Lauf einer langen, schwierigen Krankheitsgeschichte zu erzählen – und um gemeinsam Wege zu finden, damit die Patienten wieder ins Zentrum unseres Gesundheitssystems gerückt werden. Derzeit hält er sich wieder in Wien auf, um weitere Innovationsprozesse anstoßen zu können, wie er sagt.

Shternin hat mehrere Jahre seines Lebens überwiegend im Bett verbracht. Es hatte mit diffusen Symptomen begonnen: Nach dem Militärdienst litt er unter chronischer Müdigkeit und depressiven Zustände, er schrieb es den traumatisierenden Erlebnissen beim Militär zu.

Hinzu kamen Anfälle massiven Schwindels und Herzrasens, die jedes Mal auftraten, wenn er sich von einer liegenden in eine stehende Position begab, begleitet von Verwirrtheit, Sehstörungen und Kopfschmerzen. "Irgendwann konnte ich nur noch liegen", sagt er. Ärzte schickten ihn von Fachklinik zu Labor, zurück zu Spezialisten, die weitere Tests in Auftrag gaben.

Warten folgte auf Warten, die Symptome besserten sich nicht, irgendwann wurde der Limbo zwischen den Gesundheitseinrichtungen selbst zum Depressionserzeuger. Fast wäre er daran zerbrochen, sagt Shternin. Vielleicht war es die Tatsache, dass er an einer Medizin-Uni inskribiert war und selbst den Wunsch hatte, Arzt zu werden.

Irgendwann traf er den Beschluss, nicht mehr darauf zu warten, dass ihm ein Arzt eine Diagnose stellen würde. Er begann selbst zu recherchieren, Fachliteratur zu lesen, seine Symptome zu analysieren und mit den Forschungsergebnissen zu vergleichen. Eines Tages kam er auf den richtigen Befund: posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom, kurz POTS.

Kommunikationskrise

Danach ging es Schlag auf Schlag. Shternin verfasste einen Info-Blog über POTS, um sein Wissen mit allen anderen Betroffenen zu teilen – und womöglich manchen ein jahrelanges Warten auf die richtige Diagnose zu ersparen. Er wurde selbst zum Experten, während immer noch die meisten Ärzte, die er trifft, erst einmal die Suchmaschine befragen, wenn er von seiner Krankheit erzählt.

Und er erzählt viel und oft, auch vor großem Publikum: in TED-Talks auf der ganzen Welt, in Unternehmerforen, auf wissenschaftlichen Tagungen. Er widerspricht dabei gängigen Annahmen über unser Gesundheitssystem.

Dessen Krise sei "keine finanzielle Krise, sondern eine Kommunikationskrise", meint er. Da sich Ärzte und Patienten nicht richtig verständigen, komme es zu Fehldiagnosen und falschen Therapien, die wiederum neue Symptomatiken hervorrufen oder bestehende Leiden verschlimmern.

Was die Politik kann, um diese Verständigung zu verbessern? Shternin hat mehrere Ansätze. Erstens: Ärzte von administrativen Aufgaben befreien. Zweitens: Patienten bereits vor dem Ordinationstermin mit einem Anamnese-Fragebogen auszustatten, damit der Arzt oder die Ärztin schon mit einer gewissen Vorbereitung ins Gespräch gehen kann.

Und schließlich drittens: künstliche Intelligenz einsetzen, um Ärzte bei der Diagnoseerstellung zu unterstützen, etwa wenn es darum geht, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Auswertung der Anamnese einfließen zu lassen.

Revolution im Spital

Das sind aber nur die feinen Schrauben, an denen laut Shternin gedreht werden muss. Um die Wirksamkeit medizinischer Eingriffe – und damit auch die Kosteneffizienz des Gesundheitssystems – zu erhöhen, brauche es nicht weniger als eine Umwälzung der gängigen Strukturen.

Etwa in den Krankenhäusern: "Spitäler sind in allen Ländern sehr stark patriarchal geprägte Strukturen", meint Shternin. "Der Chef ist immer ein Arzt und meistens ein Mann." Das müsse nicht so sein, glaubt er. "Warum nicht eine Krankenschwester zur Spitalsmanagerin bestellen?"

Zudem sollten in allen Spitälern und anderen medizinischen Einrichtungen verpflichtend Patienten Teil der leitenden Verwaltungsorgane sein – also dort, wo die wichtigsten Lenkungsentscheidungen getroffen werden. Das mag überraschend klingen. "Wir sind gewöhnt daran, den Arzt irgendwo da oben und den Patienten irgendwo da unten zu sehen", meint Shternin. Diese Sichtweise gelte es zu ändern.

"Arzt und Patient sind auf der gleichen Ebene." Das gelte auch fürs Arzt-Patienten-Gespräch, einer Kommunikationssituation, die oft als Paradebeispiel für eine Schieflage gesehen wird: Der Mediziner verfüge über Fachwissen, das dem Patienten fehle. Und der Patient könne aus dem umfangreichen Erfahrungsschatz seiner eigenen Symptomatik erzählen. Nur dann, wenn keine der beiden Seiten zu kurz kommt, sei eine erfolgreiche Behandlung möglich.

Wobei sich die Rolle des Arztes nicht darin erschöpfen dürfe, eine Diagnose zu stellen und die passende Therapie zu verschreiben. "Ein Arzt muss Patienten lehren, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen können", in einer Sprache, wie sie für alle Lehrenden selbstverständlich sein sollte: so klar und verständlich wie möglich. (Maria Sterkl, CURE, 3.4.2020)