Die Salzburger Autorin Helena Adler: Die 14 Kühe auf dem elterlichen Biobauernhof waren alle nach griechischen Göttinnen benannt.

Foto: Eva trifft. Fotografie

"Soll ich loslegen?", fragt Helena Adler, lacht und rückt sich zuerst die Frisur und dann die insgesamt sieben ausgedruckten A4-Seiten, die vor ihr liegen, zurecht. Es wird schnell klar, warum die Neoschriftstellerin, Jahrgang 1983, deren Debüt Die Infantin trägt den Scheitel links gerade im renommierten Salzburger Jung-und-Jung-Verlag erschienen ist, Sätze sagt wie: "Der Versuch einer Verschriftlichung hat mir vieles erleichtert."

Es ist der letzte Donnerstag vor den Corona-Ausgangsbeschränkungen in Österreich. Wir sitzen bei ihr auf dem Land, außer- und oberhalb von Salzburg, zusammen in einer Wohnküche eines alten Bauernhofs, der mit dem verglasten Wintergartenausbau aber gar nicht mehr so aussieht. Die Sonne heizt kräftig herein, und Adler legt los.

Sie erzählt, wie alles angefangen hat. Im Prinzip nämlich mit Fingerfarben und Bücherlesen, das Biobauern-Kind mit der riesigen Sippschaft im Ort war nie im Kindergarten, blieb daheim im Mehrgenerationen-Haushalt bei den Urgroßeltern und war "trotz aller familiärer Grausamkeiten" ein gefördertes Kind. "Herkunftskomplex" hat ihr Lektor das genannt, sagt sie. Viele Autorinnen und Autoren schöpfen daraus.

Wie ein Fiebertraum

Bei der Lektüre ihrer "Infantin" werden durch die außergewöhnliche Sprachlust tatsächlich die wildesten Bilder einer Kindheit und Jugend auf dem Land erzeugt, in der Kühe zum Rosenkranz brüllen, Leichenschminker über die Urgroßmutter herfallen und der Vater einen Sinn für Esoterik hat.

Besonders die ersten 70 Seiten sind wie ein Fiebertraum, in dem die jüngste und schwächste Tochter am Hof nicht nur literarisches Feuer legt und in einem Akt der Selbstbehauptung alles abfackelt.

Auch wenn die Autorin, wie nach und nach klar wird, tatsächlich viel real Erlebtes in ihr Schreiben einfließen lässt, es dann überhöht und in etwas Neues, oft Surreales übersetzt: "Das mit dem Feuer war natürlich nicht so", sagt Helena Adler wieder mit einem fast hämischen Lachen, als würde sie das bereuen.

Apropos Helena, das ist tatsächlich ihr zweiter Vorname. Die 14 Kühe am elterlichen Biobauernhof waren alle nach griechischen Göttinnen benannt. Das Pseudonym hat aber auch mit der Schriftstellerin Teresa Präauer zu tun, deren Name ihrem Eigentlichen nicht unähnlich ist und die noch dazu auch in beiden Disziplinen, Literatur und bildender Kunst, arbeitet.

Fast prophetisch

Dass Adler am Salzburger Mozarteum Malerei studiert hat, manifestiert sich auch in den 21 Bildzitaten (sie hat einen Tick mit der Zahl 7), also in Titeln von Bildern aus der Kunstgeschichte, die sie ihren Buchkapiteln vorangestellt hat. Home Sweet Home des französisch-amerikanischen Objektkünstlers Arman (1928–2005) von 1960 steht etwa vor dem ersten. Wer es googelt, findet ein Werk aus dem Centre Pompidou, auf dem lauter Gasmasken zu sehen sind.

Fast prophetisch, in Zeiten von Corona: die Maske. Sie, sagt Adler, sei ein wiederkehrendes Element in ihrer Kunst gewesen – zurzeit schreibt sie mehr und malt nicht mehr viel: als lebenserhaltende Maßnahme, als Tarn-Utensil, als Vanitas-Accessoir oder als leere Hülle.

Für ihren Romanbeginn erinnert das Bild daran, dass dort am heimatlichen Hof die Stimmung auch verpestet ist. Pest und Cholera nennt sie die älteren Schwestern auch, die der Jüngeren das Leben das ganze Buch hindurch zur Landhölle machen.

Die bösen Schwestern

Den Hof bekommen am Ende trotzdem sie, die bösen Schwestern, und nicht die Infantin, so viel sei verraten. Aber um einen artigen Plot geht es hier gar nicht. "Damit tu ich mir schwer", sagt Adler ganz freimütig. Ihr geht es um Sprache. Und die ist tatsächlich gewaltig, brachial, verspielt, manchmal auch überladen, aber immer großes Unterhaltungskino, das alles mitliefert, was eine Landkindheit und -jugend so alles zu bieten hat: Auszählreime, Doktorspiele, Hochprozentiges.

"Das war alles wie Knast", sagt Adler, so hat sie sich das auf dem Zettel aufgeschrieben, "vor allem bevor du einen Führerschein hattest." Es gab keine Nische, das sagt sie immer wieder. Die beengten Verhältnis, die große Sippe, die fehlende Privatsphäre, all das trug zur Entwicklung einer blühenden Fantasie bei – und von Sehnsüchten: zum Beispiel jemand anders zu sein. "Ein Kuckuckskind", sagt Adler, "kein hagerer Bauernbub."

Im Wunsch, etwas Besseres zu sein, verschwimmen Wirklichkeit und Fiktion, und im Roman liest sich das dann so: "Auf dem Heimweg von der Schule gehe ich nun häufig am Friedhof vorbei und kontrolliere, ob der Grabstein, der mich beim Versteckenspielen einmal knapp verfehlt, noch steht. Lorena von Auersperg steht da in goldenen Lettern. 1904–44. ‚Du hättest mich fast erschlagen‘, sage ich, ‚dann läge ich jetzt bei dir.‘ Das ovale Porträt eines ausgezehrten Frauengesichts mit ängstlichen Brauen. ‚Bist du die echte Mutter meiner Mama?‘, frage ich. Dann pflücke ich Grabblumen, steche mir mit Dornen in den Finger und warte auf blaues Blut. Monochromes Blau. Die Blütenblätter werfe ich von der Steinbrücke in den Bach. Ein Gruß an meine leibliche Familie. Man muss mich entführt haben."

Das gnadenlose Dorf

Das Pseudonym soll vor allem ihr Kind schützen, sagt Adler. Aber schützt es auch vor dem Dorf? "So ein Dorf ist immer gnadenlos mit seinen öffentlichen Schlachtungen, vor allem wenn es schwarz ist", weiß Adler, und sie hat das im Buch auch thematisiert, sozusagen mit nichts hinter dem Berg gehalten, aber sich am Ende in den Danksagungen auch beim Dorf bedankt. Wie auch bei der Sippe.

Wie waren die Reaktionen der Eltern, Großeltern und Verwandten auf ihr literarisches Schreiben? Jubel, Freude, Hysterie, Gelächter, Eifersucht, Fremdschämen, Schock, Kollaps, Phlegma, Desinteresse, Atemnot, Herzstillstand. Helena Adler liest das alles vor und bedient sich wieder der Verschriftlichung ihrer Welt.

Dann klingelt ihr Handy: "Oh, die Frau Schwester!," sagt sie und drückt sie weg. "Die nennt mich jetzt Schweineprinzessin!" Helena Adler lacht dieses typische Adler-Lachen. So etwas gefällt ihr, genauso wie Leute, die am Lagerfeuer rülpsen.

Wie ihre Infantin ist auch die Salzburger Autorin dem Land und der Sippe scheinbar noch nicht ganz entkommen. Adler lebt heute – mit Mann und Kind – im Nachbarort ihrer einstigen Heimatgemeinde. Auch ihr nächster Roman wird im Randgebiet verortet sein, so viel kann sie schon sagen.

Während die Sonne weiter heizt, trinken wir Kaffee, und irgendwann wird nur noch getratscht: über das Weinstein-Urteil, ihr Sabbatical, blöde Brotberufe, Patchwork, Humor, Reisefaulheit, Corona-Maßnahmen, alte Schulzeiten, Kunst und die Welt.

Ach ja, eines noch: Warum trägt die Infantin den Scheitel eigentlich links? "Ich dachte mir, ich lass das offen!", sagt Helena Adler, im Roman tut sie das auch. Aber, und schon sprudelt es aus dem Salzburger Literatur-Bauernkind-Infantinnen-Wunder heraus. Nur so viel sei an dieser Stelle verraten: weil es ihre Zuckerseite ist. (Mia Eidlhuber, 29.3.2020)

Helena Adler, "Die Infantin trägt den Scheitel links". 20,– Euro / 186 Seiten. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2020
Cover: Jung und Jung